Zeitreise

«Fürio, de Bach brönnt»

Den Vers „De Bach isch cho, de Bach isch cho, sind mini Buebe (Meitli) alli do?“ dürfte jedes Kind, das in Aarau je die Schulbank gedrückt hat, verinnerlicht haben. Der Ruf gehört zum Ritual des Bachfischet, einem der ältesten Bräuche in der Schweiz, der praktisch ohne Unterbruch über Jahrhunderte erhalten geblieben ist. So freut man sich schon heute wieder auf den bunten Lichterzug, der sich am Abend vom Freitag, 23. September, erneut durch die verdunkelten Gassen schlängeln wird.

Von Hermann Rauber
Bild: Sammlung Stadtmuseum Aarau

Der Aarauer Stadtbach als existenzielle Lebensader muss kurz nach der Stadtgründung von 1248 entstanden sein. Über einen künstlich angelegten Kanal führte man das für Haushalt und Gewerbe unentbehrliche Wasser von den Suhrenmatten in die mittelalterliche Siedlung. Dass sich im rund 5 Kilometer langen, offenen Trog zwischen den Quellen und den Stadtmauern allerlei Unrat und Schmutz ansammelte, war nicht zu verhindern. So wurde es unumgänglich, den Stadtbach einmal im Jahr einer gründlichen Reinigung zu unterziehen. Dieses «Rumen» des Bachbettes war Bürgerpflicht und erfolgte jeweils in der Zeit nach Sankt Verenen anfangs September. Das erste Zeugnis dieser Fronarbeit datiert aus dem Jahre 1526, als im Ratsmanual festgehalten wurde, dass Drückeberger, die sich nicht am «Rumen» beteiligten, als Strafe eine Busse  von 4 Schilling zu bezahlen hatten.

Vom «Rumen» zum Bachfischetfest


Die jährliche Schufterei begann mit dem «Bachabschlag» am Wehr in Suhr und mit dem Ausfischen des Kanals. Nach vier Tagen musste das Werk vollendet und der Bach wieder betriebsbereit sein. Als Lohn winkte den Männern nach dem «Rumen» eine Verpflegung auf der Stube im Rathaus. Im 17. Jahrhundert artete diese Bewirtung aus, setzten sich doch immer mehr auch Leute zu Tisch, die sich die Hände nicht schmutzig gemacht hatten. Das entging auch der städtischen Jungmannschaft nicht, die ihr eigenes Vergnügen rund um den Stadtbach suchte, derweil sich Rat und Burger den Bauch auf Stadtkosten vollschlugen. Die Jugendlichen machten sich einen Spass daraus, mit Trommelschlag und lauten Jubelrufen die ersten Wellen im sauber geputzten Stadtbachbett an der Grenze zu Suhr «abzuholen» und zu begleiten.

Leider fehlen im Archiv lange Zeit konkrete Angaben über den Schülerteil des Bachfischet, doch dürfte dieser wohl bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Zeugnisse über das «Abholen» des gereinigten Stadtbachs durch die Jugend liefert erst das 19. Jahrhundert. 1844 berichtet der damalige Kantonsbibliothekar Franz Xaver Bronner über den Bachfischet: «Nur die Knaben ziehen abends dem wieder kehrenden Bach entgegen und begrüssen ihn mit Trommeln und Freudengeschrei». Dabei würden «die ersten Wellen mit Jubel durch die Gassen begleitet, und jedermann freut sich der Wiederkunft des belebenden Baches». Und 1846 ergänzt der wenig später nach Amerika ausgewanderte Bürstenbinder Andreas Dietsch das Geschehen mit folgenden Worten: «Fast die ganze Schuljugend kommt singend mit langen grünen Zweigen, auf welche ausgehöhlte und beleuchtete Kürbisse gesteckt sind, an ihrer Spitze ein halbes Dutzend Kadetten-Tambouren».

Vor dem Vergessen gerettet


Diese Schilderungen kommen der heutigen Gestalt des Aarauer Bachfischet schon sehr nahe. Allerdings drohte der Brauch in den Jahren während und nach dem Ersten Weltkrieg in Vergessenheit zu geraten. Es war die 1922 gegründete Heinerich Wirri-Zunft, die den Erhalt und die Pflege des urwüchsigen Brauchtums auf ihre Fahne schrieb und dies noch heute tut. Mit Erfolg, präsentieren doch heute rund 2000 Schülerinnen und Schüler, vom Kindergarten bis zur ersten Oberstufe, mit Stolz ihre selbst gebastelten Lampions und Laternen und werden nicht müde, während des wilden Lichterzuges immer wieder «Fürio, de Bach brönnt, d’Suhrer händ ne azündt, d’Aarauer händ ne glösche, d’Chüttiger rite-n-uf de Frösche» zu intonieren. Das rund einstündige Spektakel findet jeweils seinen Abschluss mit dem Mords-Chlapf, der sich von einem einzigen Böller zu einem veritablen Feuerwerk entwickelt hat und von der Wirri-Zunft finanziert wird.

2011 schaffte es der Aarauer Bachfischet auf die Liste der «lebendigen Traditionen der Schweiz». Mit dieser Auszeichnung hat der Bachfischet die Chance, dereinst von der UNESCO weltweit in den Rang eines «Meisterwerks des mündlichen und immateriellen Kulturlebens» aufgenommen zu werden. Doch die Aarauer freuen sich auch ohne höchste Weihen wieder auf den Lichterbrauch vom kommenden 23. September.