Zeitreise

Der schönste Tag im Aarauer Kalender

Den Maienzug braucht man mindestens den Aarauerinnen und Aarauern eigentlich nicht zu erklären. Jeder und jede, die den «schönsten Tag im städtischen Kalender» schon erlebt hat, verbindet damit eigene Erinnerungen, Emotionen und Erwartungen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich das Fest der Jugend im Laufe von mehr als 400 Jahren stetig verändert hat und gerade deswegen bis heute lebendig geblieben ist.

Von Hermann Rauber
Bild: Sammlung Stadtmuseum Aarau

Entstanden ist der «Meyenzug» aus der Zusammenlegung von zwei Schulfesten. Auf der einen Seite stand der «Kinderen Umbzug», der weit ins 16. Jahrhundert (erste Erwähnung 1587 im Ratsmanual) zurückreicht und der Jugend jeweils bei der Regimentsbesetzung der städtischen Behörden im Januar erlaubte, allerlei Schabernack zu treiben. Zweitens existierte vor mehr als vier Jahrhunderten der Brauch des «in die Rueten gan» durch Lehrer und Schülerschaft. Bei diesem Ausflug in den nahen Stadtwald wurden im Frühling jene Ruten geschnitten, die später in der Schulstube als Züchtigungsmittel zum Einsatz kamen. Den gleichen Ursprung hat der Rutenzug in der Stadt Brugg, der bis auf den heutigen Tag begangen wird.

Ein bescheidenes Schülerfest


In Aarau verwendete man ab dem 17. Jahrhundert für den Begriff «Ruten» das sanftere Synonym «Meyen» oder «Maien», gleichzeitig legte man den «Kinderen Umbzug» und den Maienzug zu einem einzigen Jugendfest zusammen. Der «Maienzug» hat also weder mit dem mundartlichen «Maien» für einen Blumenstrauss noch mit dem Monat Mai zu tun. Der Maienzug bildete nämlich jeweils den Höhepunkt vor den langen Sommerferien im Juli. Das Festprogramm war bescheiden: Die Schülerschaft vergnügte sich nach dem Ausflug in den Wald mit Spielen und erhielt ein einfaches Zobig. Im gottesfürchtigen 18. Jahrhundert wurde der Maienzug zu einer ernsten Kirchenfeier mit Predigten und Psalmen. Mit der Gründung des Kadettenkorps 1789 und des Kantons Aargau 1803 dominierte dem Geschmack der Zeit entsprechend das patriotische Element.

Neues Programm ab dem Jahre 1859


Nach 1850 erlebte die Gestaltung des Maienzugs eine abermalige Wende. Im Zuge des festfreudigen Biedermeier standen nun immer mehr profane Lustbarkeiten im Mittelpunkt. Und an denen nahmen vermehrt auch die Erwachsenen teil. Umzug, Morgenfeier, Bankett auf dem Schanzmätteli und Verpflegung der Schuljugend samt Spiel und Tanz wurden zu den Eckpunkten. 1973 mussten die Behörden den Maienzug vom zweiten auf den ersten Freitag im Juli verschieben, wegen der regionalen Ferienkoordination. Und 1979 scheiterte im ersten Anlauf die Absicht, das Festleben von der Schanz in den Schachen zu verlegen, an einer Petition mit 2000 Unterschriften noch kläglich. Und 1988, zum Jubiläum «400 Jahre Maienzug», löste der erste zünftige Vorabend als Gassenfest den bisher bescheidenen Zapfenstreich ab. Das «Fest der Feste» der Aarauer verbindet damit auf natürliche Weise Tradition und Gegenwart, wohl das Geheimnis dieses Brauchtums, das sich immer wieder angepasst und damit alle Stürme vergangener Zeiten erfolgreich überlebt hat.

Jahre ohne den Maienzug


Mehrfach mussten die Aarauer auf ihren Festtag verzichten, so 1817 wegen einer Hungersnot, 1843, weil die hölzerne Aarebrücke kurz vor dem Maienzugtermin eingestürzt war, oder 1888, als eine Scharlachepidemie wütete. Keine Feier gab es auch in den Kriegsjahren 1915 bis 1918 und 1940 bis 1944. Heftige Diskussionen betrafen schon in historischen Zeiten die Vergabe von Gratis-Festkarten für das Bankett. 1902 beschloss die Gemeindeversammlung, aus Sparsamkeitsgründen das Essen zu streichen. Das hatte Folgen: Aus «Täubi» beteiligten sich in diesem Jahr keine Zylindermannen am Umzug, selbst der Stadtrat streikte.

1901 stiftete der Armenpfleger Emil Erny aus Dankbarkeit für eine Gehaltsaufbesserung eine Standarte in den Stadtfarben, die nach dem Willen des Spenders durch einen «Herold» vor dem Festzug einhergetragen werden soll. Das Fahnentuch ging in den 1940er Jahren auf rätselhafte Weise verloren und musste durch ein neues Stadtbanner ersetzt werden. Als «Herold» fungiert heute eine Fünftklässlerin oder –klässler, der oder die durch das Los bestimmt wird.

Das „Regen-Bankett“ von 1981


Unerschöpfliches Thema vor und nach dem Maienzug war und ist das Wetter. Petrus meinte es mit Aarau laut Statistik mehrheitlich gut, auch wenn die Umzugsteilnehmer und die Besucher der Morgenfeier hin und wieder kalt geduscht wurden oder Wassertropfen den Gratiswein am Bankett verdünnten.  Im Jahre 1981 kam es zum heute noch legendären «Regen-Bankett», bei dem die Kantonshauptstädter und ihre Gäste das Mittagessen – eine lauwarme «Bärnerplatte» – auf der Schanz im sträzenden Wolkenbruch einnahmen.
Bild: Maienzug Aarau, Umzug in der Vorderen Vorstadt, 1922.