Kochtopf

«Ich spüre seine Beine zwischen den Zähnen»

Auf meinem Teller liegt die Lösung des globalen Ernährungsproblems. Ich müsste nur reinbeissen. Doch diese tote braune Grille hat sechs dünne Beinchen, schnurartige Antennen und Flügel. Ausserdem erinnert sie mich an Onkel Hans. Insekten könnten die Lösung sein. Doch ich Dummkopf überlege immer noch.

Von René Moor
Bilder: Valentina Verdesca

Insekten haben kein Grosshirn. Jetzt, kurz bevor ich diese Dinger zum ersten Mal esse, wünschte ich mir, ich hätte auch keins. Den Kopf abzuschalten wäre dann sicher ganz einfach. Noch eine halbe Stunde bis zum ersten Gang. Die Stimmung ist so ausgelassen wie vor der Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Rebecca starrt stumm ins Leere, die Arme fest verschränkt. Die anderen kichern verlegen herum wie Teenager vor dem ersten Zungenkuss.


Tiefgekühlt entschlummert


Mina Gloor ist ganz entspannt. Sie steht mit einem Lächeln am Kochherd und bereitet das Essen vor. Äh, ja. Sie streut gerade Cherrytomaten, Rosmarin und die Mehlwürmer über den Focaccia-Teig. Ob die süssen Tierchen noch leben? Nein. Die hat Mina zu Hause bereits tiefgekühlt («Der Kältetod ist für die Tiere, als ob sie in einen Winterschlaf entschlummern, sie leiden nicht.»), aufgetaut und blanchiert. Genauso, wie es das Lebensmittelgesetz vorschreibt.

Das Kochen mit Insekten ist für Mina seit zwei, drei Jahren ein Hobby. Darauf gekommen ist sie am Arbeitsplatz, wo sie mit Reptilien arbeitet, die sie mit Insekten füttert. «Ich habe dann einfach mal ausprobiert, ob man damit auch einen Apéro machen kann.»


Zwei Drittel der Menschheit essen Insekten


Die Focaccia ist im Ofen. Langsam wird es ernst. Um uns Mut zu machen, hat Mina einen Vortrag vorbereitet. Was ich davon mitbekomme, macht mich baff: Insekten sind grossartige Tiere, die enorm wichtig sind fürs Ökosystem. Ausserdem sind sie dank ihrem Protein, essentiellen Aminosäuren und Ballaststoffen ein hochwertiges Nahrungsmittel. Zwei Drittel der Menschheit scheinen das bereits zu wissen. Denn so viele essen diese Dinger. In 90 Ländern gehören sie zum Speiseplan wie bei uns Rösti oder Teigwaren. Und dann ist da noch die Sache mit dem Fleisch und der Umwelt.

Die Lösung aller Ernährungsprobleme


Für ein Kilo Rindfleisch sind über 15’000 Liter Wasser nötig. Unsere Nutztiere produzieren fröhlich Treibhausgase, das Nebenprodukt Ammoniak übersäuert unsere Böden und für die Produktion der Futtermittel holzen wir die Regenwälder ab. Und wie ist das mit den Insekten? Statt für sie einen Regenwald zu killen, reichen ihnen Küchenabfälle als Nahrung. Und in der Zucht haben sie quasi in einer Schuhschachtel Platz. Zudem verbrauchen sie fast kein Wasser (2 Liter pro Kilo). Und von Insekten-Wahnsinn oder Mehlwurm-Grippe hat auch noch nie jemand etwas gehört. Kurz: Insekten sind die reinsten Nahrungs-Superhelden. «Sie sind gesünder als Fleisch, schonen das Klima und bieten genügend Nahrung – auch für die nächsten Generationen.»

Mehlwürmchen knabbern, Grillen kauen


Die Focaccia ist parat. Die gebackenen Mehlwürmchen sehen aus wie Rosmarin. Und, siehe da, sie schmecken auch. Ein bisschen wie Chips. Sogar die skeptische Rebecca leert ihren Teller. Wir alle sind ein wenig stolz. Bis der Salat kommt. So eine Grille ist verteufelt gross. Vor allem, wenn sie bäuchlings – alle Viere von sich gestreckt – auf einem Salatblatt vor dir liegt und dich aus toten Augen streng fixiert. Erinnert mich an Onkel Hans. Egal. Mina hat die Insekten zuvor liebevoll in der Bratpfanne geröstet. «Dadurch kommt ihr Aroma besser zur Geltung.» Ah, fein. Tapfer kaue ich zwei, drei dieser Dinger im Mund herum. Der süffige Weisse «Arneis Roero» aus dem Piemont hilft dabei.




Kratzen im Hals


Bei Rebecca regt sich leichter Widerwille. Auf ihrem Tellerrand eröffnet sie eine Grillen-Sammelstelle. Doch dann passiert es doch: Es kratzt in ihrem Hals. Sie hat versehentlich eine Grille verschluckt. Auch Nadine trägt zur Unterhaltung bei: «Jetzt habe ich seine Beine zwischen den Zähnen.» Ich will derweil kein Weichei sein, drapiere die Grillen jedoch vor dem Essen dezent unter die Salatblätter. Einfach nicht dran denken.


Ohne Kopf geht’s besser runter


Jetzt die Polenta. Ins bunte Ratatouille fügen sich die Tierchen harmonisch ein. Wenn ich die Brille abnehme, ist es noch besser. Der Geschmack ist ebenfalls in Ordnung. Ich esse das schon richtig routiniert. Nur einen Dämpfer gibt es noch: Eine Grille will und will sich zwischen meinen Zähnen nicht zermalmen lassen. Ihre Hülle gibt kaum nach. Mina vermutet, dass diese Grille kurz vor der Häutung stehe, darum habe sie einen doppelten Chitinpanzer. Rebecca hat derweil eine Methode entwickelt, um mit den Grillen fertig zu werden. Sie seziert eine davon mit Messer und Gabel, trennt Kopf und Beine ab, bis nur noch der Körper übrig ist. Derart entpersonalisiert kann sie diesen Happen nun viel besser essen.


Heuschrecke zum Dessert


Fehlt noch das Dessert. Ein Triumph der Kulinarik: Die in Schoggi gegossene Heuschrecke (Mina hat ihre Hinterbeine freundlicherweise schon entfernt) thront wie ein Monument auf meiner Vanillekugel. Erinnert mich ans Alien von H.R. Giger. Auch von der Grösse her. Ich mag das. Und wie es geschmeckt? Nun, ein Gentleman schweigt und geniesst.



Bonus

Wer ist der Retter und lebt ganz versteckt?
Das Insekt, das Insekt! Das Insekt, das Insekt!

Wer macht das Paradies auf Erden perfekt?
Das Insekt, das Insekt! Das Insekt, das Insekt!

Kri kri kri, kra kra kra,
das Insekt ist endlich da

Auszug aus dem Songtext «Das Insekt» von «Der Plan»
Hier Reinhören.