Gastkommentar

Die Wahlanalyse am Tag danach

Die Schlachten sind geschlagen, letzten Sonntag sind Vizepräsidium, Stadtrat und Einwohnerrat in Aarau gewählt worden.

Von Stephan Müller

 

 

 

 

Es gibt Gewinner:innen und Verlierer:innen, wie immer. Wie sind die Resultate zu deuten? Da gilt es zuallererst auf die Zahlen einzugehen. Schauen wir zuerst die Vizepräsidiumswahl an. Silvia Dell’Aquila (SP) unterlag Suzanne Marclay-Merz (FDP) knapp mit 3306 zu 3475 Stimmen. Zur Analyse lohnen sich zwei Blicke. Einer auf das Umfeld des Urnenganges vom 30. November 2025, der andere auf das Ergebnis des 1. Wahlganges vom 28. September 2025.

Am 30. November wurde insbesondere die Juso-Initiative zur Erbschaftssteuer wuchtig verworfen, die Bürgerlichen waren für diese Abstimmung spezifisch motiviert. Sie wollten jedoch nicht nur national Zeichen setzen. Sie haben es auch bei der Vizepräsidiumswahl in Aarau getan, identisch auch in Suhr und Lenzburg. In Suhr unterlag der bisherige Vize-Gemeindepräsident Thomas Baumann (Zukunft Suhr, Grüne) mit 1179 zu 1193 sehr knapp dem bürgerlichen David Hämmerli. In Lenzburg unterlag Beatrice Taubert-Baldinger (SP) mit 1383 zu 1556 auch knapp der bürgerlichen Christina Bachmann-Roth (Mitte, unterstützt von FDP und SVP). Alle drei Beispiele sind deutliche Zeichen im Sinne von «the winner takes it all».

In Suhr gewann bei den vorgängigen Gemeinderatswahlen der Bürgerblock neben dem Gemeindepräsidium sehr knapp einen vierten Sitz zu ihren drei bisherigen Sitzen dazu, was zur Abwahl des SP-Gemeinderates führte. Doch Gemeindepräsidium und neu eine Mehrheit von 4:1 Sitzen statt 3:2 genügte den Bürgerlichen nicht, sie wollten nun auch das Vizepräsidium noch zusätzlich für sich, und ein bisheriger Gemeinderat trat erfolgreich gegen den bisherigen Amtsinhaber an. So hat die knappe unterlegene Hälfte von Suhr noch einen einfachen Gemeinderat, während die knappe Mehrheit den ganzen Rest für sich ergattert hat. Da kann man aus Aussensicht nur eine gute Zusammenarbeit wünschen. Möge es nach dieser resoluten, vorgängigen Vorgehensweise gelingen!

Ähnlich in Lenzburg. Vor der Wahl gabs im fünfköpfigen Stadtrat eine Ausgeglichenheit mit der Verteilung 2 SP, 2 FDP, 1 GLP. Das Präsidium war in den Händen der SP, das Vizepräsidium bei der FDP. Nun bildete sich auf die Wahlen ein Bürgerblock (FDP, Mitte, SVP), der drei von fünf Sitzen im Stadtrat eroberte (die SP verlor einen Sitz an die Mitte), das Stadtpräsidium neu gewann (die FDP setzte sich knapp gegen die GLP durch) und jetzt zusätzlich also auch das Vizepräsidium  besitzt. Also auch hier: Wenn schon, dann alles! Warum sollte die knapp unterlegene Hälfte der Stadt als Ausgleich ein Vizepräsidium besetzen können, wenn man den Rest schon gewonnen hat!

In Aarau verzichtete die SP auf einen Angriff auf den bisherigen FDP-Stadtpräsidenten, konzentrierte sich stattdessen auf das bescheidene Vizepräsidium. Die FDP bekämpfte diesen kleinen Ausgleich und wollte zusätzlich auch das Vizepräsidium für sich und kam nun damit durch. Wer hat in Aarau den Ausschlag dafür gegeben? Es sind schlussendlich die kleinen Mitte-Parteien. Dazu lohnt sich ein Blick auf den 1. Wahlgang am 28. September 2025.

Zählt man zu den Stimmen von Dell’Aquila die der grünen Kandidatin dazu, startete Dell’Aquila auf einem Polster von 2543 Stimmen aus dem ersten Wahlgang; zählt man zu den Stimmen von Marclay-Merz die des SVP-Kandidaten dazu, startete die FDP-Kandidatin auf einer Basis von 2666 Stimmen. Dazu gab es im 1. Wahlgang 1121 Stimmen für Andere und Diverse, die Hälfte davon machte mit 546 der grünliberale Kandidat Peter Jann. Es erscheint auf Grund des Ergebnisses offensichtlich, dass sich die ehemaligen GLP- und sonstigen Mitte-Parteien-Stimmen im 2. Wahlgang je hälftig auf Marclay und Dell’Aquila verteilten. Obwohl Pro Aarau, EVP und GLP sich formell für einen Ausgleich und somit für das Vizepräsidium für die SP aussprachen, machte die Hälfte davon, insbesondere wohl die der GLP, effektiv und offensichtlich nicht mit. Das erklärt den Sieg von Marclay-Merz bei der Vizepräsidiumswahl … zeigt aber auch gleichzeitig die Ursache der Niederlage von GLP-Kandidat Peter Jann bei den Stadtratswahlen auf.

Natürlich sind Stadtratswahlen Persönlichkeitswahlen. Viele gewichten bei der Wahl allein Person und deren Erfahrung. Trotzdem spielt die politische Haltung natürlich auch eine entscheidende Rolle. Da der 2. Wahlgang für die zwei offenen Sitze im Stadtrat am selben Tag wie die Einwohnerratswahl stattfand, gibt es ausgezeichnetes und aktuellstes Zahlenmaterial, um die Resultate in dieser Hinsicht zu gewichten.

Grüne und SP erreichten zusammen bei den Einwohnerratswahlen 39.3 Prozent der Stimmen, beide Parteien unterstützten den SP-Kandidaten Daniel Fondado, der 40.75 Prozent der Stimmen erhielt, womit er gewählt wurde. Der Bürgerblock (FDP, SVP, Mitte) erreichte zusammen bei den Einwohnerratswahlen 41.25 Prozent der Stimmen, sie unterstützten alle die FDP-Kandidatin Nina Suma, die 40.05 Prozent der Stimmen erhielt, womit sie ebenfalls gewählt wurde. Beide Kandidaturen von rechts und links erreichten quasi das Parteientotal ihrer Unterstützer:innen, Fondado war ganz knapp darüber, Suma ganz knapp darunter, darum lag er knapp vor ihr.

Bei den Mitte-Parteien konkurrenzierten sich Pro Aarau und die GLP um die Sitze. GLP-Jann genoss die offizielle Unterstützung von GLP, EVP, Pro Aarau, Mitte-Partei und … von den Grünen, die sich im Mitte-Parteien-Duell mit ihrem ganzen Gewicht eindeutig auf die Seite der GLP (und damit gegen Pro Aarau) stellten, um Jann eine Wahl zu ermöglichen. Diese ihn unterstützenden Parteien erreichten zusammen 38.09 Prozent bei den Einwohnerratswahlen (also eine annähernd ähnlich hohe Prozentzahl wie der Bürgerblock und die Linken), er selber errang jedoch am Wahltag nur 33.36 Prozent der Stimmen. Somit machten einige seiner offiziellen Unterstützer:innen an der Wahlurne offensichtlich nicht mit. In erster Linie ist da wohl Pro Aarau zu nennen. Ihre Kandidatin Benita Leitner machte, obwohl nur von Pro Aarau und EVP (mit zusammen einem Wähleranteil von 10.23 Prozent) unterstützt, einen hervorragenden Stimmenanteil von 31.99 Prozent. Sie erreichte also 20 Wähler:innenprozente mehr als die sie unterstützenden Parteien. Sie lag damit nur noch 95 Stimmen hinter Jann, verkürzte den Abstand zu ihm im Vergleich zum 1. Wahlgang deutlich. Es erscheint naheliegend, dass ihre Stimmen nicht von rechts kamen, sondern dass sie neben den Mitte-Parteien-Wähler:innen auch viele Sozialdemokrat:innen (und wohl auch Grüne) überzeugt haben muss, welche die von ihrem Profil her eher linkere Pro Aarau-Kandidatin Jann vorgezogen haben müssen, sonst lässt sich ihr sehr gutes Resultat parteipolitisch nicht erklären.

Und hier liegt wohl der Kern der Nichtwahl von Peter Jann begraben. Während sogar Pro Aarau trotz eigener Kandidatin im 2. Wahlgang zusätzlich zu seiner Wahl aufrief, unterstützte die GLP im 2. Wahlgang bewusst niemand anders; schon im ersten Wahlgang empfahl sie eine Siebnerliste zur Wahl, auf welcher sowohl die dritte SP-Kandidatur (Fondado) als auch die von Pro Aarau (Leitner) fehlte, womit die GLP schon vorneweg ausdrücklich zu beiden Abstand nahm. Es ist zwar sicher berechtigt, eine eigenständige Linie, unabhängig von Rechts oder Links, zu verfolgen, gar zusätzlich auf Abstand zu Parteien zu gehen, welche auf gleicher Wellenlänge sind (Motto von Pro Aarau bei den Wahlen war ja ein durchgestrichenes Pro Links, ein durchgestrichenes Pro Rechts, dafür ein positives Votum für Pro Aarau). Ohne irgendwelches Bündnis, welches auch auf Gegenseitigkeit beruht, geht es jedoch nicht. Ein Beispiel: In Lenzburg haben sich die GLP- und die SP-Kandidat:innen gegenseitig unterstützt, sowohl für den Stadtrat, das Vizepräsidium wie für die Präsidiumswahl. Aber hier liegt eben wohl die Krux der GLP in der Aarauer Politik: So wie ihre Wähler:innen bei der Vizepräsidiumswahl wohl zur Hälfte Marclay-Merz und zur Hälfte Dell’Aquila wählten, wusste man bei Jann nicht, wo und mit wem er letztlich je nach Konstellation im Stadtrat stehen würde. Das erschien bei Leitner klarer, weshalb sie Jann im 2. Wahlgang beinahe überholte.

Die neue Zusammensetzung des Einwohnerrates wird die Sichtbarmachung ermöglichen, wer mit wem wie zusammenarbeitet: Der Bürgerblock (SVP, FDP, Mitte) hat 20 Sitze (+2 Sitze), die Linke (SP, Grüne) hat 20 Sitze (-2 Sitze), die GLP hat 5 Sitze und Pro Aarau/EVP/EW ebenfalls 5. Wenn sich die GLP gerade in kulturellen oder sozialen Fragen auf die eine Seite stellte, Pro Aarau/EVP/EW auf die andere Seite, ergäbe sich ein Patt von 25:25, womit die Anzahl der Abwesenden entscheiden würde oder mittels Stichentscheid das Einwohnerratspräsidium. Nach vier Jahren Zusammenarbeit im Einwohnerrat wird es sich wohl bis 2029 zeigen, wie, wo und mit wem sich die besten und tragfähigsten Wahlallianzen für die nächsten Stadtratswahlen bilden lassen.

Der Vollständigkeit halber sei aber auch noch auf die Kandidatur von Susanne Heuberger und mir hingewiesen. Susanne Heuberger machte 28.76% der Stimmen, das entspricht der Summe von SVP-Wähler:innenanteil plus zusätzlich 60% der FDP-Stimmen. Meine Kandidatur erreichte 13.35% der Wähler:innen. Ebenfalls erwähnenswert: 11.74% der Wähler:innen schrieben nur einen Namen auf und liessen die zweite Zeile leer. Sie wollten somit ihrer Lieblingskandidatur allein zur Wahl verhelfen. Dabei dürften viele sein, welche Suma allein auf Liste setzten. Der zurückgezogene Mitte-Stadtratskandidat rief beispielsweise in einem Leserbrief in der Aargauer Zeitung explizit zu einer solchen Wahl auf.

P.S.: Da der Schreibende selber auch für den Stadtrat kandidierte, komme ich nicht umhin, mich zu dieser Kandidatur hier in der Wahlanalyse doch noch spezifisch zu äussern. Natürlich ist man dabei subjektiv und mehr befangen, als wenn man über Andere spricht. Meine Kandidatur für den 2. Wahlgang hatte zwei Hauptziele: Einerseits auf die Quartierverteilung hinzuweisen, da es möglich gewesen wäre, dass nach dem 2. Wahlgang alle Gewählten aus dem gleichen Quartier Zelgli/Gönhard gekommen wären, was unabhängig von Personen oder Parteien für die Stadt schlecht gewesen wäre (dieses Ziel wurde erreicht).

Andererseits: Ich hätte gerne eine Allianz von Mitte-Links im 2. Wahlgang gesehen, welche zu einem Stadtrat mit 3 SP, 1 Grüne und 1 von GLP/Pro Aarau/EVP (neben 2 FDP) geführt hätte. Aber es zeigte sich bald, dass GLP, Pro Aarau und EVP sich weder auf eine Allianz unter sich einigen konnten, noch zu einer Allianz mit der SP bereit waren, sondern sich in erster Linie gemeinsam auf die dritte SP-Kandidatur einschossen, welche sie bewusst und öffentlich zur Nichtwahl empfahl. Nach dem Vorliegen einer solchen Nicht-Allianz war für mich sonnenklar, dass ich mit einer eigenen Kandidatur zusätzlich und ohne jegliche Vorbehalte für Daniel Fondado (SP, Telli) eintreten und Werbung machen würde, um das primäre Ziel zu erreichen: Die erste rot-grüne Mehrheit in der Geschichte der Stadt Aarau. Dieses historische Ziel konnte erfreulicherweise –  auch mit meinem Aufwand – erreicht werden. Denn es war vorgängig eine gleichzeitige Wahl von Suma und Jann zu befürchten (diese Kombination wurde ja auch ausdrücklich von der Mitte-Partei empfohlen, mit der die GLP bisher ja eine Fraktionsgemeinschaft hat; zudem wurde diese Möglichkeit zumindest passiv mit der durch Pro Aarau/EVP/GLP propagierten Nichtwahl von Fondado in Kauf genommen). Ein solche Wahl hätte fatal zur Nichtwahl von Dell’Aquila als Vizepräsidentin gepasst.

Zu allerletzt: Mir wurde zugetragen, dass einzelne Leute meinen, meine Kandidatur hätte eine zwar denkbar wacklige, doch mögliche, äusserst knappe Wahl von Fondado und zusätzlich entweder von Jann oder Leitner verhindert, welche gegen Suma hätten gleichzeitig obsiegen können. Das Zahlenmaterial spricht nicht dafür: Leitner hätte über 60 Prozent meiner Stimmen erben müssen, um Suma (und Fondado) einzuholen zu können. Das ist doch unwahrscheinlich. Jann hätte ebenso über 50 Prozent meiner Stimmen erben müssen, um Suma (und Fondado) einzuholen zu können. Das ist ebenso unwahrscheinlich. Zusammen wäre es sogar eine mathematische Unmöglichkeit, weil sie gemeinsam 110 Prozent meiner Stimmen hätten erben müssen, um beide nur schon Suma einzuholen. Und es gibt keinen Grund nicht anzunehmen, dass meine Wähler:innen sich bei einer Nicht-Kandidatur zum Teil gar nicht an den Wahlen beteiligt hätten, stattdessen meine Linie leergelassen hätten, und der Rest sich, wenn schon, so gleichmässig auf Leitner und Jann aufgeteilt hätte, wie dies bei der Wahl selbst geschah. Kurzum: Es wären also beide auch ohne meine Kandidatur nicht gewählt worden, und angenommen doch: Sie hätten dann nicht Suma ihre Wahl vereitelt, sondern Fondado, weil er ohne die klare Unterstützung von mir und unserem «Quartier-Anzeiger» den knappen Vorsprung von 49 Stimmen auf Suma meiner Ansicht nach auf jeden Fall eingebüsst hätte.
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