Gastkommentar

Aarau: Zufall und Losen

Losen in der Demokratie? Wurde Aarau zufällig Hauptstadt?

Von Stephan Müller

 

 

 

 

Viele wissen, dass Aarau am 12. April 1798 Hauptstadt der Helvetischen Republik wurde. War das Zufall, war das Schicksal?

Natürlich war es etwas zufällig, weil schon nur die Frage, wer über die Hauptstadt bestimmen sollte, offen war: Wer soll bei einer Revolution, bei einer erst noch zu gründenden neuen Republik, vorgängig die Hauptstadt bestimmen dürfen? Da die Alte Eidgenossenschaft davor gar keine Hauptstadt kannte, drängte sich nicht eigentlich eine Stadt dafür auf. Aber die Vorgeschichte prädestinierte Aarau doch in einer gewissen Weise zur neuen Hauptstadt: Die letzte ausserordentliche Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft fand nämlich im Januar 1798 in Aarau statt. Dort wurde der Bundesschwur der Alten Eidgenossenschaft nochmals beschworen: «Im Auftrag und in Vollmacht unserer Regierungen verpflichten wir uns feierlichst, alle Bünde, die seit der Grundlegung unserer Freiheit geschlossen worden sind, fest, unverbrüchlich und stets zu halten und uns demzufolge gegenseitig ein jeder Stand nach seinen besonders eingegangenen Verpflichtungen bei diesen glücklich bestehenden Bünden und unserer eidgenössischen Verfassung treulich zu schützen.» Kaum waren damals die Tagsatzungsherren der verschiedenen eidgenössischen Orte jedoch weggefahren, stellten die Aarauer:innen als Zeichen für Rebellion und Revolution einen Freiheitsbaum auf und umtanzten diesen.

Es gab – neben der guten zentralen verkehrstechnischen Lage – somit zwei gute Gründe für Aarau als Hauptstadt der neuen Republik: Einerseits die erwiesene revolutionäre Gesinnung der Bürgerschaft, andererseits die oberflächliche Kontinuität, die sich durch die Wahl des Ortes der letzten Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft herstellen liess, indem der selbe Ort knapp ein Vierteljahr später als provisorische Hauptstadt und erster Versammlungsort der neuen Republik figurierte. Am 3. Mai 1798 bestätigten die neuen helvetischen Räte durch einen Beschluss Aarau als provisorische Hauptstadt. Damit bekam der neue Hauptort offiziell eine demokratische Legitimation. Im August des selben Jahres widerriefen die Räte jedoch den Beschluss, neue Hauptstadt wurde Luzern, welche im letzten Wahlgang Bern mit 61:57 besiegte. Im Oktober 1798 zogen die helvetischen Behörden nach Luzern.

Fazit: Aarau wurde zwar nicht zufällig erste Hauptstadt der Schweiz, jedoch spielten Zufälligkeiten durchaus eine Rolle.

Das soll uns zu einer weiteren grundsätzlichen Frage führen: Wie soll in einer Republik, in einer Demokratie, die Auswahl der Repräsentant:innen vor sich gehen? Durch eine Wahl der Bürger:innen? Oder wäre ein Losen, also ein Auslosen der Vertreter:innen nicht eigentlich viel demokratischer und gerechter?

Die Verfassung von Peter Ochs, welche am 12. April 1798 in Aarau beschlossen wurde, sah zwar ausdrücklich die demokratische und freie Wahl von Parlament und Regierung vor, jedoch waren in ihr bewusst auch Elemente eingebaut, in dem das Los bestimmen sollte. Peter Ochs war dies so wichtig, dass er in der Verfassung sogar ein jährliches nationales Fest vorschrieb, das jeweils am Tag der öffentlichen Losziehung stattfinden sollte. Auch in seinem Theaterstück «Zeltner» liess er die gefangenen Revolutionäre auf Grund dieses Verfassungsartikels über den Sinn des Loses in seiner Verfassung diskutieren: Klar kommt hier zum Ausdruck, wie wichtig ihm für die repräsentative Republik eine «weise» Verschränkung von Los und freier Wahl war (siehe Ausschnitt aus dem Theaterstück).

Am «Tag der Republik» am 12. April 2025, genau 227 Jahre nach dem Inkrafttreten seiner Verfassung, wird im Aarauer Theater Tuchlaube dieses Theaterstück von Peter Ochs wieder ein Thema sein. Direkt davor wird es am diesjährigen «Tag der Republik» im Aarauer Rathaus ein Podium zum Thema «Demokratie und Losverfahren» geben. Der Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau (ZDA), Daniel Kübler, wird dort das Forschungsprojekt betreffend ausgeloster Bevölkerungsräte vorstellen. Danach wird unter der Moderation von Claude Longchamp über das Thema diskutiert. Aus Stuttgart reist dafür Barbara Bosch, Staatsrätin von Baden-Württemberg für Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft und ehemalige Oberbürgermeisterin von Reutlingen (Partnerstadt von Aarau), an. Mit ihr auf dem Podium sind Hannah Werner, Assistenzprofessorin für vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt demokratische Repräsentation am ZDA; Marc Steiner, Bundesverwaltungsrichter und Co-Fachgruppenleiter des Instituts «Public Sector Transformation» der Berner Fachhochschule; sowie Che Wagner, Programmleiter «Teilhabe» von Pro Futuris und Leiter des Projektes «Zukunftsrat». Auf diese Diskussion in Aarau darf man gespannt sein!

Gibts in Aarau gar einen Genius loci für ein Losverfahren in der Demokratie? Zwei Webseiten zu diesem Thema werden nämlich von Aarauern geführt, es gibt einerseits die Seite des Vereins Losdemokratie, andererseits informiert die Seite «losen statt wählen» in verschiedenen Sprachen vielfältig über das Losen als Möglichkeit in der Demokratie.

Was meine Meinung dazu ist? Wenn man sieht, welche Wahlresultate welche Auswirkungen haben in der heutigen Welt, lässt sich das Credo von Peter Ochs sehr gut nachvollziehen, dass Demokratie im Idealfall eine weise Mischung von Los und freier Wahl sein sollte. Eine öffentlich zugängige französischsprachige Publikation einer Nationalfondstudie führt gut aus, dass in der Schweiz das Los früher, in den Zeiten vor und nach Ochs, eine wichtige Rolle spielte, sei es an Landsgemeinden wie in Glarus, sei es für die personelle Auswahl für Funktionen in Städten wie Basel oder Bern. Man kann hier also auf einer fast vergessenen Tradition aufbauen.

2021 stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung über die Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justiz-Initiative) ab, fast ein Drittel stimmte damals Ja.

Losen und Zufall bleiben offensichtlich ein strittiges und aktuelles Thema in der Demokratie. Diskutieren wir es am «Tag der Republik» am 12. April in Aarau!