Zeitreise

Aarauer Bahnhof-Geschichten

Anfangs Juni 1856 dampfte der erste Eisenbahnzug von Olten nach Aarau. Hier war im Schachen (beim heutigen Gasthof zum Schützen) vorläufig Endstation, denn der 466 Meter lange Schanztunnel und der Damm Richtung Wöschnau waren noch im Bau. Erst nach deren Vollendung im Frühling anno 1858 und dem Bezug des neuen Aarauer Bahnhofs war eine direkte Verbindung zwischen Zürich und Bern sowie Basel möglich. Aarau und damit auch der Aargau verpassten allerdings im 19. Jahrhundert den Aufstieg zu einem nationalen Bahnknoten, diese Rolle beanspruchte schon früh die Stadt Olten.

Von Hermann Rauber

Bilder: Sammlung Stadtmuseum Aarau

Damals waren der Bau und Betrieb von Bahnlinien noch eine Domäne privater Investoren und Gesellschaften. Aarau befand sich genau an der Schnittstelle der rivalisierenden Nordostbahn (NOB, Zürich) und der Centralbahn (SCB, Basel). Züge, die ab 1858 von Zürich nach Bern oder Basel verkehrten, mussten in Aarau zwingend anhalten. Während die Passagiere sitzen bleiben konnten, wurde hier die NOB-Lokomotive durch eine aus dem SCB-Bestand ausgewechselt. Dieser komplizierte Umstand änderte sich erst mit dem Ja des Schweizervolks am 20. Februar 1998 zur Verstaatlichung der fünf grossen Privatbahngesellschaften und damit zur Gründung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Immerhin lag Aarau nun an der Hauptverkehrsachse Zürich-Bern, die damals noch über Baden und Brugg führte.

Legendäre Silvesternacht 1900


Die erste SBB-Komposition nach Bern fuhr ausgerechnet in der Silvesternacht vom 31. Dezember 1900 auf den 1. Januar 1901 in Aarau ab. Zur Feier des epochalen Ereignisses traf sich fast die ganze Stadt am Bahnhof und sorgte für Jubel, Trubel, Heiterkeit. Raketen schossen in den Himmel, der Alkohol floss in Strömen, es war, so ein Augenzeuge, eine «Altjahrsnacht, wie sie Aarau noch nie erlebt hat».

Ein eingeschlafener Lokomotivführer


Noch vor diesem Rummel war es im Bahnhof zu einem schweren Unglück gekommen. Am späten Samstagabend vom 3. Juni 1899 fuhr ein Zug von Zürich mit ungewohnter Geschwindigkeit in die Halle und prallte auf Höhe des Pestalozzischulhauses auf eine wartende SCB-Lokomotive. Der Zusammenprall, offenbar verschuldet durch einen schlafenden Zugführer, forderte zwei Tote und mehrere Verletzte. Das folgende Gerichtsverfahren endete jedenfalls mit einem Schuldspruch für den Bahnangestellten im Führerstand.


Zusammenstoss beim Bahnhof Aarau, 1899

Unterführung und Passerelle


Bereits 1859 präsentierte sich stolz das erste Bahnhofsgebäude, auch wenn der Standort, bedingt durch die Topografie, nicht in Reichweite des historischen Stadtzentrums lag. Von Anfang an integriert war eine Wirtschaft, ein «Buffet», für das als erster Pächter der Ochsenwirt Wettler gewonnen werden konnte, der damit bei seinen Berufskollegen allerdings keine Freude auslöste. Fahrgäste mussten damals, wenn sie auf das Perron gelangen wollten, zu Fuss die Gleise, die nur mit einer rostigen Kette gesichert waren, überqueren. Erst 1923 erstellt wurden die beiden Passanten-Unterführungen West und Ost. In die gleiche Zeit fällt auch der Bau der eisernen Passerelle, die vom damaligen Bankrain Richtung Bahnhofstrasse führte. Dort oben konnte man bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch hautnah den Hauch der guten alten Zeit der Dampflokomotiven spüren. Mindestens beim Güterverkehr, die Strecke Zürich-Aarau-Olten war nämlich bereits 1925 elektrifiziert worden.

Zeitungsverkäufer «Guggugg»


Vor der Einfahrt der Wagen verbrachte man die Zeit im Wartesaal (1. und 2. Klasse), Ankunft und Abfahrt der Züge wurden durch grosse Stationsglocken lautstark signalisiert und vom Kondukteur ausgerufen («Iischtiige, Töre schlüsse!»), der sich dann elegant auf den bereits anfahrenden Zug schwang. Zur Einrichtung des ersten Bahnhofs, der 1923 mit Blick auf das Eidgenössische Schützenfest in Aarau ein Jahr später umfassend saniert und erweitert wurde, gehörte auch ein Kiosk. Davor verkaufte noch vor 60 Jahren ein Mann namens Hässig jeweils die drei Tagesausgaben der «Neuen Zürcher Zeitung». Sein Markenzeichen war der Ruf des Kuckucks, den er von Zeit zu Zeit ausstiess. Die Schülerbuben neckten den Zeitungsverkäufer auf dem Heimweg, hinter einer Hausecke versteckt, mit einem lauten «Guggugg».

Abschied von Kaiserin «Sissi»


Einen Massenauflauf erlebte der Aarauer Bahnhof am Nachmittag des 14. September 1898. Die sterblichen Überreste der Habsburger Kaiserin Elisabeth, die kurz zuvor in Genf ermordet worden war, wurden mit dem Zug nach Wien gebracht. Weil in Aarau wie gewohnt die Lokomotive gewechselt werden musste, machte der Trauerwagen in Aarau einen obligatorischen Halt. Eine unübersehbare Menschenmenge wollte bei dieser Gelegenheit der österreichischen Monarchin «Sissi» die letzte Ehre erweisen. Drei Regierungsräte sowie Stadtammann Max Schmidt überbrachten Beileidsbezeugungen, die Kirchenglocken läuteten, während die Anwesenden barhäuptig und lautlos an den Gleisen verharrten, bevor der düstere Zug nach zehn Minuten von dannen fuhr.
Titelbild: Bahnhof Aarau, 1873