Gastkommentar

Bevölkerungsanliegen

Wird die Bevölkerung auch wirklich gehört und darf mitbestimmen?

Von Stephan Müller

 

 

 

Um Mitternacht, letzten Freitag auf den Samstag, fragte ich auf der Gasse Leute, die ich kenne, über was ich schreiben solle, es müsse einen Bezug zu Aarau haben. Man sagte mir, die neue Ausstattung im Aarauer Bahnhof mit Pflanzen und gemütlichen Sitzgelegenheit könnte ein Thema sein. Es sei sehr mutig, was da nun eingerichtet wurde. Jemand anders kam dazu und meinte auf die selbe Frage, die Zwischennutzung des «Kubo» im Mobimo-Areal wäre auch ein Thema: Die Mobimo profitiere, da sie recht hohe Mietzinsen von den unkommerziellen Veranstalter:innen verlange, welche im Gegenzug Gelder von Stadt und Kanton zur Finanzierung der Mieten bekämen. Das sei eine fragwürdige Konstruktion.

Mir gefällt, dass in Aarau vor kurzem die Möglichkeit zur Eingabe von «Bevölkerungsanliegen» geschaffen wurde. Wenn mindestens zehn Einwohner:innen von Aarau ein Anliegen unterschreiben, es dürfen auch Ausländer:innen oder unter 18-jährige mitmachen, wird dieses Anliegen dem Einwohnerrat zur Abstimmung unterbreitet. Und die Lancierer:innen dürfen ihr Anliegen dort persönlich vortragen, sofern sie das wünschen. Stimmt der Einwohnerrat dem Bevölkerungsanliegen zu, muss der Stadtrat versuchen, es umzusetzen. Die neue Gemeindeordnung, welche diese Möglichkeit schafft, ist am 1. Februar 2024 in Kraft getreten.

Ich finde, dieses neue Gefäss sollte unbedingt auch genutzt werden.

Man kann zwar als Einzelperson in Aarau schon seit Jahren auch Bürgermotionen einreichen. Diese Möglichkeit steht aber allein Stimmberechtigten offen. Zudem: Das Anliegen einer Bürgermotion muss zwingend «motionsfähig» sein, was heisst, dass das Anliegen im Kompetenzbereich des Einwohnerrates liegen muss. Für Anliegen, die im Kompetenzbereich des Stadtrates liegen, ist die Bürgermotion nicht erlaubt, bzw. der Einwohnerrat darf auf solche Anliegen nicht eintreten. Für die Einreichung einer Bürgermotion braucht es vorgängig somit fast eine juristische Beratung, damit man auch etwas fordert, das wirklich «motionsfähig» ist.

Beim neu eingeführten Instrument des «Bevölkerungsanliegens» können nun weiter gefasste Anliegen eingegeben werden. Alle Anliegen, die im Kompetenzbereich von Aarauer Institutionen liegen, ob Stadtrat oder Einwohnerrat, dürfen eingebracht werden. Nicht zulässig wäre bzw. keinen Sinn macht es, dass beispielsweise in einem Bevölkerungsanliegen ein Friedensschluss zwischen der Ukraine und Russland gefordert würde. Denn weder Einwohnerrat noch Stadtrat können über einen solchen Friedensbeschluss entscheiden. Jedoch: Ein Bevölkerungsanliegen kann fordern, dass der Stadtrat sich für dieses Ziel des Friedensschlusses Ukraine-Russland einsetzt, wie und wo auch immer. Darüber kann der Einwohnerrat entscheiden. Stimmt er zu, muss danach der Stadtrat immerhin offiziell darüber berichten, inwiefern und wie er etwas in dieser Sache im Sinne des Bevölkerungsanliegens unternommen hat.

Der Stadtrat und auch der Stadtpräsident betonen letzthin deutlich ihren Willen, auf die Bevölkerung einzugehen. Der Stadtpräsident hat kürzlich sogar neu Bürger:innensprechstunden eingerichtet und in seiner Neujahrsrede kam der Begriff der «Partizipation» prägnant vor. Es ist abzuwarten, ob das alles die Verheissung eines neuen Tonfalls im Umgang mit Bevölkerungsanliegen ist. Schlussendlich ist man bei eingegebenen «Bevölkerungsanliegen» nämlich nicht nur von der Zustimmung des Einwohnerrates abhängig, sondern in vielerlei Hinsicht auch von einem wohlwollenden Stadtrat, der sich danach auch Mühe gibt, die beschlossenen Bevölkerungsanliegen umzusetzen wie gewünscht.

Ein Beispiel, das einem eher zweifeln lässt, ob der Stadtrat diesbezüglich immer guten Willens ist, ist die am 12. Februar 2024 veröffentlichte Botschaft über das Postulat «Analyse der Kreisschule Aarau-Buchs». Das Postulat wurde vom Einwohnerrat am 21. Dezember 2021 beschlossen. Im Postulat wird der Stadtrat gebeten, «eine umfassende Situationsanalyse/Auslegeordnung der Kreisschule Aarau-Buchs, nötigenfalls unter Beizug externer Spezialisten, vorzunehmen und dem Einwohnerrat einen Bericht vorzulegen und Massnahmen- und Lösungsvorschläge zu unterbreiten». Er wird insbesondere gebeten, sieben Fragestellungen zu klären. Nach nun mehr als zwei Jahren stadträtlicher «Arbeit» erstaunen die Antworten auf diese sieben Fragestellungen doch einigermassen. Die sieben Fragen und Antworten des Stadtrates hier ungekürzt:

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1. Wie ist die Rücktrittswelle unter den Kreisschulpflegerinnen und Kreisschulpflegern zu erklären? Läuft in der Kreisschule Aarau-Buchs etwas falsch?

Stadtrat: Die Beantwortung dieser Frage liegt nicht in der Kompetenz des Stadtrats.

2. Bestehen strukturelle Probleme innerhalb der Kreisschule Aarau-Buchs, insbesondere im Hinblick auf die Wahl der Kreisschulpflege und auf die Schnittstelle Schulpflege-Schulleitung?

Stadtrat: Die Beantwortung dieser Frage liegt nicht in der Kompetenz des Stadtrats. Zur Kompetenzverteilung zwischen Organen der KSAB siehe vorstehend Ziffer 1 (Vorbemerkungen).

3. Wie kann sichergestellt werden, dass künftig gesetzliche Vorgaben und Wahlversprechen eingehalten werden?

Stadtrat: Die Beantwortung dieser Frage liegt nicht in der Kompetenz des Stadtrats. Zur Kompetenzverteilung zwischen Organen der KSAB und zur Aufsicht siehe vorstehend Ziffer 1 (Vorbemerkungen).

4. Ist die Aufsicht über die Kreisschulpflege ungenügend? Wenn ja, wie kann diese neu geregelt werden?

Stadtrat: Die Beantwortung dieser Frage liegt nicht in der Kompetenz des Stadtrats. Zur Kompetenzverteilung zwischen Organen der KSAB und zur Aufsicht siehe vorstehend Ziffer 1
(Vorbemerkungen).

5. Wie ist die Rolle des Kreisschulrates zu sehen? Liegen die Probleme ursächlich bei diesem Gremium? Masst sich der Kreisschulrat Kompetenzen an, welche nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen?

Stadtrat: Die Beantwortung dieser Frage liegt nicht in der Kompetenz des Stadtrats. Zur Kompetenzverteilung zwischen Organen der KSAB und zur Aufsicht siehe vorstehend Ziffer 1 (Vorbemerkungen).

6. Wäre die Abschaffung des Kreisschulrates, wie jüngst gefordert wurde, eine denkbare Lösung? Wer würde in diesem Fall die Rolle der gesetzlich vorgesehenen Abgeordnetenversammlung übernehmen?

Stadtrat: Der Kreisschulrat, als Abgeordnetenversammlung nach § 78 GG, ist gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben. Eine Abschaffung desselben ist vor diesem Hintergrund möglich und denkbar. Gemäss § 80 Abs. 3 GG ist der Vorstand eines Gemeindeverbandes für alle Gegenstände im Kompetenzbereich des Gemeindeverbandes zuständig, welche nicht ausdrücklich einem anderen Organ vorbehalten sind. Bei einer Abschaffung des Kreisschulrats fällt die abschliessende Kompetenzzuweisung an den Kreisschulrat nach § 14 der Satzungen weg. Die Kompetenzen des Kreisschulrats gehen damit von Gesetzes wegen automatisch an den Schulvorstand über. Davon ausgenommen ist die Wahl des Schulvorstands selber, welche nach § 80 Abs. 2 bei Fehlen einer Abgeordnetenversammlung den Gemeinderäten der Verbandsgemeinden zukommt.

7. Wäre die Variante einer Auflösung des Gemeindeverbandes denkbar und sinnvoll? Wann wäre diese erstmals möglich? Wäre eine einvernehmliche Auflösung im Einverständnis beider Verbandsgemeinden zulässig?

Stadtrat: Ein Gemeindeverband kann nach § 82 Abs. 2 GG nur dann aufgelöst werden, wenn entweder sein Zweck unerfüllbar oder hinfällig geworden ist, oder wenn ein besser geeigneter Rechtsträger an dessen Stelle tritt. Die Auflösung ist nur mit Zustimmung der Mehrheit der Verbandsgemeinden möglich. Für die Auflösung der KSAB bedürfte es somit der Zustimmung der Stimmbevölkerung der beiden Gemeinden Aarau und Buchs. Zudem wäre für eine Auflösung die Zustimmung des Regierungsrats als Aufsichtsorgan nötig. Im Gegensatz zu einem Verbandsaustritt sehen die Satzungen keine Bestimmungen zu Mindestfristen für eine Auflösung des Verbands vor. Ein solcher Beschluss könnte mit dem nötigen Vorlauf für die Ausarbeitung des entsprechenden Geschäfts den beiden Einwohnerräten und den Stimmbevölkerungen von Aarau und Buchs vorgelegt werden.

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Mir scheint, wenn ich mir die Art und den Tonfall der Sprache des Stadtrates gebührend zu Gemüte führe, dass die Umsetzung des immerhin vom Einwohnerrat beschlossenen Postulats nun nach zwei Jahren doch eher auf eine Geringschätzung der Anliegen hinausläuft. Die Antworten kommen mir irgendwie schnodrig bis kafkaesk vor. Geht das nur mir so? Ich stelle mir vor, Fragen und Antworten würden in einem Theaterstück auf der Bühne von Schauspielenden gespielt und gelesen: Was käme da als Quintessenz für die Zuschauer:innen heraus? Wo läge die auch emotionale Spannung zwischen der Art der Fragen und Antworten? Welche Art von Machtgefälle würde sichtbar werden?

Nach der Beantwortung der sieben Fragestellungen stellt der Stadtrat in der Botschaft an den Einwohnerrat übrigens den Antrag, dass das Postulat «Analyse der Kreisschule Aarau-Buchs» als erledigt abgeschrieben werden soll, gezeichnet mit: «Im Namen des Stadtrats: Dr. Hanspeter Hilfiker, Stadtpräsident; Dr. Fabian Humbel, Stadtschreiber.»

Fazit dieser Kolumne? Bevölkerungsanliegen sind wichtig. Das neue Instrument der Eingabe von Bevölkerungsanliegen an den Einwohnerrat durch zehn Einwohner:innen von Aarau sollte unbedingt genutzt werden. Der Einwohnerrat stimmt dann zu oder nicht. Und der Stadtrat setzt nach Zustimmung des Einwohnerrates die Anliegen um, auf die Art und Weise, wie er das für sich herausnimmt.

Als Erinnerung, was unsere Demokratie ausmacht: Bevölkerung und Einwohnerrat stehen über dem Stadtrat. Stimmbevölkerung und Einwohnerrat beschliessen, der Stadtrat hat auszuführen, was beschlossen wurde.

Auf einem weiteren Durchgang durch die Stadt fragte ich zwei weitere Personen, was ein sinnvolles Thema der Kolumne wäre. Vorgeschlagen wurden mir der Konkurs des Restaurants Weinberg sowie das Warten auf das «Tibits», welches im «Einstein» im Frühling eröffnet werden soll.

P.S.: Als Nachtrag zu meiner letzten Kolumne betreffend Stadtbachöffnung Hintere Vorstadt: Samir Hertig und Benita Leitner (beide Pro Aarau) stellten im Einwohnerrat Fragen zur zeitlichen Umsetzung der beschlossenen Öffnung des Stadtbaches, auch im Hinblick auf die vorgesehene Neupflästerung in diesem Jahr. Gemäss Aargauer Zeitung fiel die Antwort des Stadtrates «ungewohnt energisch» aus. Er will jetzt pflästern und danach später alles wieder aufreissen für die Öffnung des Stadtbaches. «Ungewohnt energisch» also den Auftrag des Einwohnerrates umsetzen? Oder eher: «Ungewohnt energisch» ihn nicht umsetzen?