Gastkommentar

Die rasenden Reporterinnen

Neutrale Insiderinnen?

Von Lydia Klotz und Eleonora Sartori

 

Im heutigen Gastkommentar berichten wir aus der Aarauer Rathausgasse. Wie der Titel vielleicht schon vermuten lässt, lehnen wir uns dabei an Egon Erwin Kisch und sein 1925 erschienenes Werk «Der rasende Reporter» an. Aufgrund eben jenes Werkes wurde er auch selbst als rasender Reporter bezeichnet. Kisch war ein österreichischer, später tschechoslowakischer Schriftsteller, Journalist und Reporter und gilt als ein Vertreter der «Neuen Sachlichkeit».
Wir sind zwar weder Kisch noch Hermann Burger, doch wollten wir einen Versuch wagen, Aarau distanziert sachlich zu betrachten und zu beschreiben. Ein Stil, welcher heute durch online geteilte Beiträge mit kurzen Ausschnitten aus dem Alltag einer Person unbewusst verbreiteter ist denn je. Stories von Speisen, Reisen und Blumen stellen eine Art Reportage dar. Scrollt man durch die Instagram-Feeds, hat man den Eindruck, wir alle sind in irgendeiner Form rasende Reporterinnen und Reporter. Wir möchten uns bewusst dieser literarischen Strömung annehmen und haben uns dafür in die Rathausgasse gesetzt. Den Aarauerinnen und Aarauern werden gewisse Szenen vertraut vorkommen und den Ausgeflogenen vielleicht auch etwas Heimatgefühl in die Ferne tragen.

Notizbuch schnappen, Augen öffnen, Ohren spitzen, die Aarauer rasenden Reporterinnen machen sich auf den Weg in die Rathausgasse!

Beobachtungen


Tochter und Vater umarmen sich zur Begrüssung. Ein Hund läuft den Graben auf und ab. Ein Auto bemerkt das Fahrverbot und wendet. Eine Frau mit Tüte schaut in die Schaufenster. Ein schnelles Elektrovelo überholt alle. Touristen schauen sich die Giebel an.
Man hört ein Flugzeug. Leute sitzen draussen in den Restaurants und studieren die Speisekarte. Ein Rollstuhl fährt richtig Rathaus. Mutter und Tochter suchen die Sonne und gehen Richtung Kirchplatz. Ein Mann schaut auf sein Handy und sucht den Weg. Grosse weisse Lieferautos quetschen sich durch die Gasse. Am Stadtbach sind zwei Tauben. Ein weisses Abfallpapier fliegt im Wind. Eine Veloschaltung klickt. Eine Frau steht draussen vorm Geschäft und raucht. Ein Auto mit Zürcher Kennzeichen bahnt sich den Weg. Vor dem Rathaus stehen zwei bunt bepflanzte Blumenkübel. Ein Ehepaar auf Mountainbikes rauscht vorbei. Es riecht nach Frühling. Ein älterer Herr mit grossem Hund kommt vorbei. Ein UPS Auto fährt Richtung Vordere Vorstadt und hält zwischendurch an. Ein Paar fährt auf einem Tandem vorbei. Zwei junge Mädchen kommen aus dem Rathaus. Ein Moment Ruhe bis die nächsten Velos kommen. Man hört das Rauschen vom Stadtbach. Ein Kind macht erste Laufversuche. Wieder ein Bus. Drei ältere Damen kommen aus einem Café. Und wieder ein Bus. Kinder entdecken Glace und rufen. Eine Familie auf Velos fährt von der Aare Richtung Graben. Fotos vom Obertorturm werden gemacht. Ein Jugendlicher läuft unmotiviert den Eltern hinterher. Viel Schweizerdeutsch, aber auch andere Sprachen werden gesprochen. Die Sonne wärmt. Im Schatten ist es eher kühl. Ein Rennvelo rast vom Lockentopf Richtung Rathaus. Man hört Hundegebell. Ein Skateboarder ist auf den Steinen gut zu hören und nutzt, dass es bergab geht. Erneut ein Lieferauto. Ein Kind reicht dem Vater die Hand.
Leute zeigen sich den Weg…

Wir stellten fest: Das sind ziemlich viele Eindrücke, die da auf einen einwirken! Verschiedene Sinne werden angesprochen. Nicht nur die Augen und Ohren, aber auch die Nase. Die Stadt hat einen bestimmten Geruch. Manchmal riecht man Dürüm, ein starkes Parfüm, Blumen oder Desinfektionsmittel. Ausserdem fühlt man eine gewisse Temperatur. Man betreibt Window-Shopping, während man Stimmen hört, die Haare im Wind wehen, das Handy klingelt und der Bus vorbei möchte.

Inside Aarau und ein neutraler Schreibstil?


Es ist gar nicht so leicht, einfach neutral zu beschreiben. Eigentlich dachten wir «Wow ,die Bepflanzung vor dem Rathaus ist sehr schön» und «Dieses Kleid hätte ich gerne». Im Alltag ist insideaarau alles andere als neutral. Schliesslich wollen wir bewusst unsere Lieblingsorte empfehlen und schmackhaft machen.
Wir, Eleonora und Lydia, haben im Rahmen unserer Maturaarbeit einen Stadtplan mit subjektiven Empfehlungen entworfen und diesen dank einem Crowdfunding tatsächlich drucken lassen können und in der Stadt verteilen dürfen.
Unser Ziel war es nie, distanziert sachlich von der Stadt zu berichten, sondern unsere persönlichen Empfehlungen mit anderen Menschen zu teilen. Was macht Aarau für Eleonora und Lydia aus?
Wir haben begonnen, bewusst wahrzunehmen, was wir jemandem zeigen würden, der die Stadt Aarau noch nie gesehen hat. Für uns war immer klar: Aarau bietet unzählige einzigartige Cafés, Geschäfte und «geheime» Plätze, welche in anderen Städten nicht aufzufinden sind. Von diesen und unseren Gedanken an und in diesen Plätzen wollten wir berichten. Was wir normalerweise wöchentlich machen, ist eine Adaption der «Neuen Sachlichkeit», indem wir kurze Ausschnitte aus dem Aarauer Alltag online teilen, allerdings mit dem Stilbruch der Subjektivität. Ist Instagram zu einer Art Reportage-Plattform des 21. Jahrhunderts geworden? Gibt es eine neue Form der «Neuen Sachlichkeit»?

Neue Sachlichkeit


«Neue Sachlichkeit», das lernten wir einst von unserer Deutschlehrerin, beschreibt eine literarische Strömung während der Weimarer Republik, welche von 1918 bis 1933 dauerte. Das Verzichten auf bildhafte Stilmittel wie auch der Verzicht auf Darstellung von Emotionen zeichnen die «Neue Sachlichkeit» aus. Ziel war es, durch eine realistische Darstellung die politische und gesellschaftliche Situation widerzuspiegeln.
Die Gründung der Weimarer Republik im Jahr 1918 wurde begleitet durch Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und viele weitere Missstände. Die «Neue Sachlichkeit» spielt mit der Vorstellung des Menschenbilds, in welchem der Mensch als Ware betrachtet wird, welche jederzeit austauschbar ist. Verfasst wurden Texte im Stil der neuen Sachlichkeit in leicht verständlicher Alltagssprache aus der Perspektive eines neutralen Betrachters. Den lesenden Personen wurde kaum Raum für eigene Vorstellung gelassen und Gefühle nicht thematisiert. Romantik und Sturm und Drang wurden in der Epoche der «Neuen Sachlichkeit» versucht zu unterdrücken. Der Schreibstil der Reportage wurde zur Orientierung genutzt, um Beobachtungen wiederzugeben. Neutralität lautet das Stichwort der literarischen Strömung und mit diesem Stichwort so viele Sichten wie möglich ansprechen, um auf die gesellschaftlichen Missstände aufmerksam zu machen.

Ein rotes Auto fährt Richtung Obertorturm. Ein Mädchen rennt zum Kirchplatz. Eine Wolke ist am Himmel zu sehen. Wieder ein Bus. Touristen biegen in die Kronengasse ein.

Der Gastkommentar endet. Die rasenden Reporterinnen verlassen die Rathausgasse. Sie teilen gleich einen Beitrag auf Instagram @insideaarau, in welchem sie den neuen Gastkommentar ankünden.
Sie geben allen Lesenden ein Zitat von Egon Erwin Kisch aus dem Vorwort des «Rasenden Reporters» von 1925 mit auf den Weg: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit in der man lebt.”
Die Infos für die Einleitung und den Abschnitt zur Neuen Sachlichkeit bezogen wir von: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/kunst-und-kultur/egon-erwin-kisch-der-rasende-reporter.html und
https://studyflix.de/deutsch/neue-sachlichkeit-literatur-3662. Zuletzt abgerufen am 20. April 2022.