Gastkommentar

Frühling in Aarau

Es ist zu befürchten, dass in Aarau im Herbst wichtige Wahlen ohne Auswahl stattfinden werden.

Von Stephan Müller

 

Es ist zwar heute letzter Februartag, doch die vergangene Woche war frühlingshaft warm und schön. Und alle genossen es. Vorfrühling in Aarau.

Es ist auch Vorherbst in Aarau. Im Herbst wählt die Stimmbevölkerung Stadtregierung und Stadtparlament neu.

Sind Umstürze zu erwarten? Bleibt alles gleich wie immer, und ist das gut so? Oder braucht es einen Wechsel in der Regierung?

Das sind berechtigte Fragen. Und jeder und jede beantwortet diese Fragen anders. So soll es auch sein. Aber die entscheidende Bedingung, um diese Fragen zu beantworten, ist, dass eine Auswahl zur Verfügung steht! Und diese Voraussetzung ist und war leider nicht immer da.

Eine Wahlmöglichkeit muss gerade auch zuoberst gelten, bei der Wahl zum Stadtpräsidium. In Aarau gab es 1889 eine Wahl zwischen zwei freisinnigen Kandidaten fürs Stadtammannamt, wie das Stadtpräsidium früher hiess. Doch danach – man möge sich als Demokratin und Demokrat nun am Schreibtisch festhalten – bis 2001 nicht mehr! Mehr als ein Jahrhundert lang schlug der Freisinn in Aarau jeweils eine Person, ein Mann, vor, und der wurde jeweils ohne Gegenkandidaten mit zwischen 90 und 100% der Stimmen gewählt, mit Stimmenzahlen wie im früheren Ostblock. Die einzige äusserst minimale Abweichung gab es, als ein ehemals als Freisinniger in den Stadtrat Gewählter nach einem Streit 1937 als BGB-ler (frühere SVP) auch ohne Gegenkandidaten zum Stadtammann erkoren wurde.

Nach über einem Jahrhundert Einparteienherrschaft ohne Auswahl kandidierte ich darum 2001 unter dem Namen «JETZT!» und – als die SP vier Jahre später ihren neuen Kandidaten nicht als Stadtpräsidenten aufstellen wollte – auch 2005 als Stadtpräsident, um den Stimmbürgern eine Alternative zum langjährigen Stadtpräsidenten Marcel Guignard anzubieten. Natürlich waren meine Chancen gering, doch nach mehr als einem Jahrhundert gab es überhaupt eine Auswahl. Beide Male erzielte ich als Stadtpräsidentkandidat rund einen Viertel der Stimmen, was doch ein klares Zeichen war, dass eine echte Wahl von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern geschätzt wurde. Nebenbemerkung zu 2001: Damals stellten die Parteien in Aarau für den Stadtrat nur sieben Kandidaten für sieben Sitze auf. Dieses demokratische Desaster führte unmittelbar zur Gründung der zwei Lokalparteien Pro Aarau und JETZT!, welche mit je einem Kandidaten diese Wahl ohne Auswahl verhinderten und danach weiter über Jahre die Szene der Altparteien in Stadt- und Einwohnerrat aufmischten.

Der Bann der Wahl ohne Auswahl fürs Stadtpräsidium war erfreulicherweise nun gebrochen. 2009 entschlossen sich plötzlich sowohl Stadtrat Beat Blattner (SP) als auch Stadtrat Michael Ganz (Pro Aarau) zu einer Kandidatur gegen Stadtpräsident Guignard (FDP). Auch vier Jahre später konnte die Stimmbürgerschaft wiederum aus drei Kandidaturen auswählen. Stadträtin Jolanda Urech (SP) gewann das Präsidium gegen Stadtrat Lukas Pfisterer (FDP) und Martin Häfliger (parteilos). Mit der Wahl von Urech 2013 wurde erfreulicherweise auch der Bann gebrochen, dass nur der Freisinn die Stadt regieren kann, wie auch, dass nur Männer Aarau regieren können. Sie war die erste Frau und die erste Linke im Präsidium. Nach ihrem Rücktritt traten wieder drei KandidatInnen an, Stadtrat Hanspeter Hifiker (FDP) eroberte 2017 das Präsidium gegen Daniel Siegenthaler (SP) und Stadträtin Angelica Cavegn Leitner (Pro Aarau). Erstmalig überhaupt kam es zu einen zweiten Wahlgang ums Amt. Ins gute Bild der demokratischen Auswahl im neuen Jahrhundert passen auch die Wahlen zum Vizepräsidium, für welches in den Wahlen von 2001 bis 2013 jeweils zwei Kandidaturen zur Auswahl standen, 2017 sogar drei. Und für die sieben Stadtratssitze gab es mit mindestens neun bis zu einem Dutzend KandidatInnen auch immer eine gute Auswahl für die Stimmbürgerschaft.

Eine lebendige Demokratie in Aarau! Eine wahre Freude!

In diesem Herbst besteht nun die akute Gefahr, dass diese Tradition demokratischer Auswahl abbricht. Es sieht so aus, als ob das Stadtpräsidium wie im letzten Jahrhundert ohne Auswahl besetzt wird, weil keine Gegenkandidatin und kein Gegenkandidat für die Stimmbürgerschaft eine Alternative anbietet. Und auch für das Vizepräsidium zeichnet sich dies ab. Ein demokratischer Rückschritt! Man will sich offensichtlich nicht wehtun, oder hat Angst davor, zu verlieren. Jedoch: Auch eine «verlorene» Kandidatur ist wichtig und gibt der Bevölkerung die Möglichkeit, sich politisch auszudrücken! Da ein FDP-Mann (wie während des letzten Jahrhunderts) das Stadtpräsidium führt, müssten GegenkandidatInnen dieses Jahr wohl von SP, Pro Aarau oder allenfalls der SVP kommen. Insbesondere die SP als grösste Partei in Aarau ist gefragt.

Zu allem Übel ist sogar denkbar, dass 2021 wiederum nur sieben Kandidaten für die sieben Sitze im Stadtrat antreten werden, wie es schon vor zwanzig Jahr ohne die damals überraschenden Kandidaturen von Pro Aarau und JETZT! geschehen wäre.

Wer hat den Mut zu kandidieren? Wir, die StimmbürgerInnen von Aarau bedanken uns für eine Auswahl beim Stadtpräsidium, beim Vizepräsidium wie auch für den Stadtrat im Herbst.

Noch ist Vorfrühling. Doch die Jahreszeiten wechseln.