Gastkommentar

Heinrich Zschokke – ein früher Inside Aarauer 

Heinrich Zschokke prägt Aarau bis heute. Doch wer war Zschokke, und wo hat er seine Spuren hinterlassen?

Von Lydia Klotz und Eleonora Sartori

 

Wir schrieben vor einigen Monaten über Albert Einstein in Aarau. Aber es gibt noch andere nennenswerte Persönlichkeiten, welche Aaraus Geschichte geprägt haben. Hast Du schon mal von Heinrich Zschokke gehört?
Gerne erläutern wir euch ein paar Dinge, die er in Aarau vollbracht hat, berichten von einem neuen Film über Zschokke und überlegen in einem Gedankenexperiment, was Zschokke heute ändern wollen würde, wenn er im 21. und nicht im 19. Jahrhundert leben würde.

Heinrich Zschokke kommt in die Schweiz


Für alle, die sich schon gefragt haben, woher der Name Zschokke eigentlich stammt: Er leitet sich wohl von dem sorbischen Wort “tschucka” ab, was so viel wie “Erbse” bedeutet (S.16). Irgendwie erscheint uns “Erbse” passend, denn – wie bei der Prinzessin auf der Erbse – liess Zschokke die Schweiz nicht schlafen, ehe er das Land nicht aufgeklärt hatte. Er liess die Schweiz erst ruhen, als er seine Anliegen platzieren und so gut wie möglich umsetzen konnte. Doch weshalb und wie er die Schweiz tags- und nachts wach hielt, darauf gehen wir im Folgenden genauer ein.

Wir sind jetzt 24 Jahre alt. So alt war Heinrich Zschokke, als er in die Schweiz kam.
Geboren wurde Zschokke 1771 in Magdeburg. Nach einer wohl traumatisierenden Kindheit entwickelte sich Zschokke in seinen jungen, erwachsenen Jahren zum «Wegbegleiter der modernen Schweiz». Mit dem Ziel, das Schulwesen zu verbessern, liess sich Zschokke 1796 in Reichenau (Kanton Graubünden) nieder, womit der erste Schritt zu seinem festen Wohnsitz der Schweiz gesetzt wurde. Zeitgleich durchging die Schweiz einen geschichtlichen Wandel. Der Wandel prägte die Schweiz, und Zschokke prägte die Schweiz. Um die verschiedenen Einflüsse besser nachzuvollziehen, nehmen wir Dich, liebe lesende Person, mit auf einen kurzen geschichtlichen Exkurs.
Die Schweiz wurde von aussen regiert. Die Franzosen hatten die Schweiz erobert, und das Land wurde durch Napoleon nachhaltig geprägt. Seine Regierung war es, die die nötigen politischen und sozialen Reformen zu uns brachte und uns aufzwang. «Égalité, fraternité, liberté» – Grundsätze, welche dadurch in die Schweiz gebracht wurden. Besonders die Gleichheit aller Kantone prägt noch heute die schweizerische Kultur. Der Wiener Kongress 1815 brachte der Schweiz zwar die Erlaubnis ein, als neutrales Land anerkannt zu werden, doch darauf folgten dunkle Zeiten und ein Bürgerkrieg nagten an den Ressourcen des Landes.
Heinrich Zschokke lebte in dieser Zeit des Umbruchs und wollte «liberale Hilfe zur Selbsthilfe geben». Er gilt als schweizerischer Aufklärer, da er die schweizerische demokratische Geschichte während des Umbruchs grundlegend prägte. Mit dem Ende des Bürgerkrieges 1847 wurde ein neuer Schweizerischer Bundesstaat gegründet, welcher sich an den französischen Menschenrechten orientierte. Vor 175 Jahren, 1848, wurde die neue schweizerische Verfassung verabschiedet, welche als «Fundament der modernen Schweiz» bezeichnet wird.
Fast schon symbolisch für diesen neuen aufgeklärten Abschnitt in der Schweizer Geschichte, welcher viele von Zschokkes Spuren trägt, verstarb er just in jenem Jahr. Es erweckt den Eindruck, als hätte er sein Ziel erreicht und könnte in Ruhe Frieden finden.

Geschäftige Jahre in Aarau


«Geschäftige Jahre in Aarau» heisst der Übertitel des Buchkapitels über Aarau in der Biografie Zschokkes von Werner Ort. Sehr passend, so finden wir, denn Zschokke hat in seiner Lebenszeit unglaublich vieles erreicht und scheint jede Minute genutzt zu haben, um «geschäftig» zu sein. Was Aarau heute ausmacht und was wir von Inside Aarau über die Kantonshauptstadt berichten, wurde von Heinrich Zschokke mitgeprägt. Denn der Schriftsteller, Politiker, Privatdozent für Theologie und Philosophie, Staatsbeamte, Erzieher, Unternehmer, Briefschreiber und Pädagoge, machte den Aargau und dessen Hauptstadt zum Kulturkanton bzw. Kulturstadt.

Nachdem sich Zschokke in Aarau niedergelassen hatte, gründete er etliche politische Zeitschriften und betätigte sich in verschiedenen Ehrenämtern, «um seinem neuen Vaterland zu danken», wie es in seiner Biographie heisst. Er wurde Teil vieler Gesellschaften in Aarau und 1829 Präsident und Hauptredner der Helvetischen Gesellschaft, welche zur «Bühne für eine liberale Weltanschauung wurde». Durch die Gesellschaft für vaterländische Kultur im Kanton Aargau, heute Kulturgesellschaft, war der Aargau nicht nur Rüeblikanton, sondern auch Kulturkanton. Die Kulturgesellschaft Aarau besteht bis heute und unterstützt vielseitige Projekte, weitere Kulturförderinstitutionen haben sich etabliert. Zschokke hat sich, wie oben erwähnt, stark für die Bildung eingesetzt und stellte mit seinem bürgerlichen Lehrerverein eine Konkurrenz zur Alten Kantonsschule dar. In Zschokkes Schule durften auch Handwerker. Sie galt als bürgernah und bedarfsorientiert, auch Friedrich List unterrichtete am Rain 18. Mit der von ihm ins Leben gerufenen politischen Zeitschrift der Schweizerbote wollte Zschokke das Volk anregen, den eigenen Verstand zu nutzen und so zu einer Emanzipation des Volkes beitragen. Aus einer weiteren Zeitschrift von Zschokke, den Miszellen, ging 1814 die erste Version der Aargauer Zeitung hervor. Und Zschokke hatte Glück, denn im Gegensatz zu Basel und anderen Kantonen gab es in Aarau keine Zensur. Die Stadt wurde kurzzeitig «zum Zentrum europäischer Presse».

Seine schiere Breite des Engagements und die Vielfalt seines Schaffens sind einfach beeindruckend. Zschokke hat für so viele Verknüpfungen, Netzwerke und Austausch gesorgt, und das alles ohne Handy, LinkedIn und andere Social Media Kanäle. Uns, als eine Art Stadtreporterinnen, fasziniert es, wie er immer über das Neueste in der Stadt informiert war und beispielsweise im Schweizerboten von neuen Entwicklungen in der Stadt, dem Land und auch dem Ausland berichtete. War er ein Vorläufer für Inside Aarau? Dürfen wir uns in einem gewissen Grade wie in seinen Fußstapfen fühlen? Er hätte uns bestimmt gute Ideen liefern können, vermutlich wäre unser Blog allerdings etwas politischer.

Obschon Heinrich Zschokke als Aufklärer galt und den Fortschritt der Schweiz prägte, würde man ihn heute privat als konservativ beschreiben. So durfte seine Ehefrau Nanny Nüsperli aus Küttigen nach der Heirat beispielsweise weder am Teezirkel teilnehmen, ausgehen oder ihre Kleiderwahl frei bestimmen. Des Weiteren wurden seine Kinder mit Schlägen «erzogen». Dieser private Widerspruch lässt einen seinen angepriesenen Fortschritt für die Schweizerische Gesellschaft hinterfragen.

Zschokke im Aarauer Stadtbild


Zschokke ist auch heute noch in Aarau präsent, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Dies sieht man gut am Aarauer Stadtbild. So erinnert beispielsweise die Zschokkestrasse, obschon unklar, ob diese wirklich nach Heinrich Zschokke benannt wurde, an ihn. Zschokke lebte ab 1807 in Aarau, am Rain 18; wo man als Aarauerin oder Aarauer fast täglich vorbeilaufen mag und seit 2005 eine Bronzetafel über der Tür daran erinnert. Damals konnte er das Haus für umgerechnet 14’440 Franken kaufen. Am Rain kamen 6 seiner 13 Kinder zur Welt. Zschokke installierte gar eine Wetterstation im Garten. Er war 1809 beim Aufbau einer Gerberei und eines Lederhandels beteiligt und wollte dies zuerst am Rain 18 unterbringen. Die Mieterin wollte aber nicht ausziehen (Kommen uns solche Nutzungskonflikte nicht von heute bekannt vor?), und er nutzte das Raingut im Ziegelgarten hinter dem Haus als Standort für die Lederfabrik. Markant erinnert die Villa Blumenhalde, wo sich heute das Zentrum für Demokratie Aarau einquartiert hat, an den Schriftsteller und Politiker – denn es war Heinrich Zschokke, der die Villa entwarf und bauen liess und vom Rain dahin zog. Dort war mehr Platz für die Kinder (Zschokke und seine Frau bekamen insgesamt 12 Jungs und zum Abschluss ein Mädchen, nach jeder Geburt wurde ein Kanonenschuss abgefeuert). Dort war dann auch die handgeschriebene Familienzeitung «der Blumenhaldner» im Umlauf. Im Jahr 2000 wurde in der Blumenhalde die Heinrich-Zschokke-Gesellschaft gegründet.
Bild: Blumenhalde im Jahr 1887

Ins Auge sticht nicht nur die schöne Villa in Aarau, sondern auch das Zschokke-Denkmal, welches den Kasinoplatz ziert. Seid ihr schon mal am Verlagshaus Sauerländer an der Laurenzenvorstadt 89 vorbeigekommen? An der Gründung dieses Verlages war Zschokke beteiligt. Als Herausgeber und Chefredakteur konnte Zschokke den Verlag nutzen, um seine Ideale in Verbindung mit der Volksaufklärung und Volksbildung zu verbreiten.
Nicht ganz so auffällig und doch erkenntlich «markiert» findet man Zschokkes Grab am Friedhof im Rosengartenweg.

Neuer Film: «Das abenteuerliche Leben des Heinrich Zschokke


Der beeindruckenden Persönlichkeit Heinrich Zschokke wurde nun ein Film «Das abenteuerliche Leben des Heinrich Zschokke» gewidmet. Seine Ururur-Enkel Matthias Zschokke und Adrian Zschokke waren Drehbuchautor, Regisseur und Kameramann. Wir waren bei der Filmpremiere im September in der Berliner Akademie der Künste dabei. Wir wollen an dieser Stelle gar nicht zu viel verraten, doch lohnt sich der Film für alle, die mehr über Zschokke, sein Wirken, seine Familie und sein Engagement erfahren wollen. Es hat uns sehr gefreut, in einem Kinosaal mitten in Berlin plötzlich Aarau zu sehen. Wir gingen nach der Preview, bei der auch Dr. Paul Seger, der Schweizer Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland anwesend war, sehr inspiriert nach Hause und bestellten uns sofort die Biografie von Zschokke.
Haben wir euch gluschtig gemacht? Good News! Am 17. Oktober findet ab 18.00 Uhr im Kino Ideal in Aarau die Schweizer Filmpremiere statt. Bis zum 10. Oktober kann man sich noch anmelden.
Schreibt uns gerne auf @insideaarau oder unter insideaarau@bluewin.com wie ihr den neuen Film findet und was ihr sonst noch über Zschokke wisst.

Zschokke goes modern times


Manchmal fragen wir uns, was Zschokke mit seinem visionären Geist heute so ändern wollen würde. Was würde ihm aufstossen? Seine politischen Zeitungen wären vermutlich digital. Er würde sicher bei den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU mitreden wollen. Was würde er zur Digitalisierung sagen? Würde er sie unterstützen? Sicher würde er die Bürokratie entschlacken wollen und Genehmigungen beschleunigen. Bestimmt hätte er bei den Diskussionen um das Aarauer Fussballstadion längst die Geduld verloren… Was wäre seine Einstellung zur Schweizer Neutralität? Wie hätte er politische Partizipation im 21. Jahrhundert ermöglicht? Das GA wäre ihm sicher zu teuer, er hätte den öffentlichen Verkehr allen zugänglich machen wollen…. Bestimmt würde er Einiges, wie es gerade ist, nicht hinnehmen. Was hätte er zu überfüllten Flüchtlingsunterkünften und dem Krieg in der Ukraine gesagt? Wie hätte er das mit der Gleichberechtigung und Lohngleichheit gesehen? Gerne hätten wir uns mit ihm über all das unterhalten.

Um noch einmal kurz auf die Analogie mit der Prinzessin auf der Erbse und den Ursprung von Zschokkes Namen zurückzukommen, mussten wir beim Gedanken schmunzeln, dass Heinrich bei der Einführung der allgemeinen Hagelversicherung beteiligt war – denn Hagel hat des Öfteren die Grösse einer Erbse. Doch diese Parallele liess und nicht nur schmunzeln, sondern auch staunen, denn sie war wieder ein Beispiel dafür, wie Zschokke die heutige Schweiz und teilweise auch unseren Alltag und die Stadt Aarau geprägt hat.

Wir beenden unseren Gastkommentar mit einem Zitat von Thomas Pfisterer, ehemaliger Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft: «Sein [Zschokkes] Ziel war es, die Menschen zu politischer Reife, zur Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und zur Demokratie zu führen. Dieses Anliegen ist zeitlos.» Dem stimmen wir zu und versuchen, zum Einsatz für Demokratie beizutragen.
Quelle: Wenn wir aus dem Buch zitieren, beziehen wir uns auf Heinrich Zschokke (1771-1848). Eine Biografie von Werner Ort aus dem Jahr 2013. Erschienen bei hier+jetzt, Baden

Weitere Infos:
http://www.heinrichzschokke.ch/wp-content/uploads/2014/10/Zschokke-Brief-2.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Zschokke
https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Zschokke; https://de.wikipedia.org/wiki/Villa_Blumenhalde
https://de.wikipedia.org/wiki/Verlag_Sauerl%C3%A4nder