Herr Hilfiker, wenn man auf Webseite der Stadt Aarau das Wort «Gleichstellung» in die Suche eingibt, liefert sie keine Ergebnisse. Auf einer Skala von 1 bis 10, welche Bewertung geben Sie der Stadtverwaltung bezüglich Gleichstellung?
Ich würde sagen, wir liegen bei einer guten Acht.
Warum?
Wir haben im Bereich des Personalreglements Fortschritte gemacht, indem wir es letztes Jahr vollständig revidiert haben. Das war sicherlich ein grosser Schritt in Sachen Gleichstellung. Auch was die Funktionsbesetzungen angeht sind wir gut dabei: Sowohl politisch im Stadtrat als auch in der Leitung der Verwaltung haben wir seit Jahren eine sehr starke Frauenvertretung. Mehrere Abteilungen werden von Frauen geleitet – seit Jahrzehnten – die sozialen Dienste etwa oder die Finanzverwaltung der Stadt. Und auch verschiedene Institutionen wie das Stadtmuseum oder die Stadtbibliothek werden von Frauen geleitet. In der vorherigen Legislatur waren vier von sieben Mitgliedern des Stadtrats Frauen, heute sind es immerhin noch drei. Ich glaube, wir sind da wirklich gut aufgestellt.
Mit dem neuen Personalreglement der Stadt sind 20 Tage Vaterschaftsurlaub eingeführt worden.
Genau, ausserdem gibt es für die Angestellten flexible Arbeitszeiten und wir haben das Pensionsalter angeglichen (65 Jahre für Frauen und Männer, Anm. d. Red.).
Eine Acht auf der Gleichstellungs-Skala für die Stadtverwaltung ist ja schon sehr gut. Was muss noch geschehen, damit die fehlenden zwei Punkte bis zur Zehn dazukommen?
Verbesserungen sind immer möglich. Aus meiner Sicht gibt es zwar keinen akuten Brennpunkt. Schwierigkeiten gibt es aber häufig bei der Besetzung von gewissen Funktionen. Beispielsweise im Verwaltungsrat der Eniwa, die ja der Stadt gehört. Dort waren bis vor zwei Jahren zwei Frauen vertreten, heute noch eine. Die stadträtliche Delegation ist von einer Frau und einem Mann auf zwei Männer angepasst worden, weil die Ressortzuteilungen zählen.
Wo liegen dort die Schwierigkeiten?
Sektoren wie Energie oder Technik sind stark männlich geprägt, die Auswahl von branchenspezifisch qualifizierten Frauen ist beschränkter. Das sieht man etwa bei den Studienabgängen, dort gibt es einen Männerüberhang. Gleichzeitig sind häufig Personalwesen, Kommunikation oder Rechtsdienste von Frauen dominiert. Bei naturwissenschaftlich-technischen oder betriebswirtschaftlichen Funktionen ist die Auswahl an Kandidatinnen bisher aber kleiner.
Ein wichtiges Thema, wenn wir von Gleichstellung sprechen, ist die Kinderbetreuung. Die Umsetzung des kantonalen Kinderbetreuungsgesetzes (KiBeG) ist noch hängig.
Wir haben dieses Reglement im Stadt- und im Einwohnerrat abgesegnet. Es wird auf das neue Schuljahr eingesetzt, also per 1. August dieses Jahres. Die Kinderbetreuung in der Stadt ist gewährleistet und es gibt genügend verfügbare Plätze. Ein weiterer wichtiger Punkt, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherzustellen, ist die Entwicklung in der Kreisschule Aarau-Buchs – also ob es bald die Möglichkeit einer Tagesschule gibt. Das wird momentan geprüft, beide Einwohnerräte haben dieses Postulat überwiesen; bis 2020 laufen die Abklärungen. Ich denke, dass es grundsätzlich sinnvoll ist, die Schulstrukturen auch für die Tagesbetreuung zu nutzen.
Familien und Erziehungspersonen, die im Rahmen des KiBeG finanzielle Unterstützung beantragen, stehen in einer Holschuld – wie bei der Ermässigung der Krankenkassenprämie.
Genau. Die Webseite der Stadt enthält die entsprechenden Informationen, es ist aber auch möglich, die sozialen Dienste zu kontaktieren. Unser Ziel ist es, diesen Ablauf weiter zu vereinfachen. Wir arbeiten momentan an einem Tool, das bis nächstes Jahr fertig sein sollte. Dann kann man die Anträge online ausfüllen und sie können schneller geprüft werden.
Wenn Familien und Erziehungspersonen eine Ermässigung der Kinderbetreuung erhalten, wie läuft das genau ab?
Bisher war es so, dass die Stadt eine Vorfinanzierung geleistet hat bei den Betrieben, mit denen wir eine entsprechende Vereinbarung hatten. Neu gehen die Eltern in die Vorleistung. Dabei gibt es grosse Unterschiede, gewisse Familien sammeln die Abrechnungen über einige Monate und reichen sie dann ein, andere schicken sie monatlich ein. Auch diese Abläufe soll das neue Tool vereinfachen.
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt erwartet am Frauenstreiktag ein vielseitiges Programm, das Streikmanifest wird sogar vor dem Rathaus verlesen. Warum ist kein Mitglied des Stadtrats beim offiziellen Programm dabei?
Mir ist keine offizielle Anfrage für einen spezifischen Beitrag bekannt; ich weiss aber, dass einzelne Mitglieder des Stadtrats als Privatpersonen an den Anlässen teilnehmen werden. Für uns im Stadtrat war vor allem wichtig, dass der Frauenstreik und das Turnfest gut aneinander vorbeikommen; gleichzeitig war von Anfang an klar, dass der Streiktag in Aarau stattfinden können muss.
Wenn man Sie angefragt hätte für eine Kundgebung am Frauenstreik, was wäre Ihre Botschaft?
Ich bin kein Streikgänger und wäre da sehr zurückhaltend. Ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe ist, am Frauenstreiktag einen offiziellen Beitrag zu leisten. Die Anliegen an sich und dass man darauf aufmerksam macht, erachte ich aber als sehr wichtig; und ich denke, dass wir als Stadt da bereits sehr viel tun. Der Streik ist ein Instrument, Anliegen zu vertreten – aber es ist nicht unbedingt mein Instrument.
Was ist denn Ihr Instrument?
Überall dort, wo man einen unmittelbaren Einfluss haben kann, sollte man sich einsetzen. Eben etwa bei einer Überarbeitung des Personalreglements, bei der Nomination von Frauen für Ämter, bei der Besetzung von Stellen in der Stadtverwaltung und so weiter. Dort muss man sich bewusst sein, dass es nach wie vor ein Ungleichgewicht gibt. Einen «Notstand» sehe ich diesbezüglich aber nicht.
In der Schweiz allgemein oder in der Stadt Aarau?
Wenn wir die politische Ebene anschauen ist der Stadtrat wie gesagt gut aufgestellt was den Frauenanteil betrifft, finde ich. Im Bundesrat ist das auch kein Problem, in den Regierungsräten ist es schon schwieriger. Und in den nationalen und kantonalen Parlamenten sassen auch schon mehr Frauen. Ich gehe davon aus, dass es nach den Wahlen im Herbst wieder mehr sein werden.
Am Frauenstreik gehts ja nicht nur um Frauen in der Politik.
In der Wirtschaft erachte ich die Situation als schwieriger. Wenn es in einer Schweizer Firma eine Position zu besetzen gibt, speziell in einem technischen oder wirtschaftsorientierten Sektor, stehen einfach noch immer weniger Frauen mit branchenspezifischen Ausbildungen und Berufserfahrungen zur Verfügung. Da ist es nicht verwunderlich, wenn in den entsprechenden Gremien weniger Frauen vertreten sind. Ich bin kein Quotenfreund.
Das hört man fast ein bisschen raus bei Ihnen.
(lacht) Ja. Aus meiner Sicht sollte man mehr machen im Bereich der Ausbildung, Ich denke im technischen und wirtschaftlichen Bereich sollten wir stärker steuern.
Wie meinen Sie das?
Ich hatte geschäftlich über einige Jahre viel in Osteuropa zu tun. Dort hatten wir kaum Schwierigkeiten, Frauen in Führungspositionen zu befördern. Es gab genügend qualifizierte Mathematikerinnen, Naturwissenschafterinnen, Informatikerinnen, Ingenieurinnen – eben weil es an den Unis genügend entsprechende Absolventinnen gab.
Wo sehen Sie den Grund dafür?
Die Studienplätze wurden im Kommunismus viel gelenkter vergeben. Dadurch hat sich die Geschlechterfrage weniger gestellt. In der Schweiz gibt es demgegenüber noch immer extreme Ungleichgewichte: In der Pädagogik gegen 80 Prozent Abgängerinnen, in den Naturwissenschaften oder in den Wirtschaftswissenschaften eine klare Mehrheit an Abgängern. Ich denke, wir müssen uns eine Steuerung der Studienrichtungen überlegen. Fachliche Qualifikation ist für spezialisierte Wirtschaften entscheidend. Die Grundlage dazu legt das Bildungssystem, auch mit der entsprechenden Motivation der Studierenden für neue Rollenmodelle.
Wäre es nicht angebrachter, die Strukturen der Arbeitswelt frauenfreundlicher zu gestalten? Immerhin stellen viele Chefs noch immer aus Kostengründen keine Frauen ein, weil sie im Gegensatz zu Männern fehlen, wenn die Kinder kommen. Dazu kommt die Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern. Muss nicht zuerst dieses frauenfeindliche System angepasst werden, anstatt die Frauen zu «zwingen» etwas zu studieren, was sie vielleicht weniger interessiert? Dann würden automatisch mehr Frauen in die entsprechenden Sektoren gehen?
Ich denke nicht, dass die heutigen Strukturen frauenfeindlich sind. Wesentlich sind die Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit sowie intakte Angebote, um Familie und Ausbildung beziehungsweise Beruf zu kombinieren. Da haben wir in Aarau ja gerade in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Wir haben in der Schweiz die Gleichberechtigung der Frauen, ihre Partizipation in Wirtschaft und Politik, viel zu spät thematisiert, das steht ausser Zweifel. Wir sollten heute darauf achten, ähnliche Fehler nicht neuerlich zu begehen.
Was meinen Sie konkret?
Ich denke an die Ungleichbehandlung der Nicht-Schweizerinnen und Nicht-Schweizer in unserem Land. Immerhin 25 Prozent unserer Bevölkerung leben hier ohne Schweizer Pass. Häufig wirtschaftlich integriert, aber politisch nicht engagiert. Wie bei den Frauen wird es meines Erachtens nicht darum gehen, in Quoten zu denken, sondern den Willen zur Partizipation in den Vordergrund zu rücken. Auch hier denke ich, sind unsere Diskussionskultur und unser Bildungssystem gefordert.
Apropos Steuern: Ich kenne das von mir und meinen Freundinnen, Frauen scheinen dazu zu tendieren, dorthin zu gehen, wo es andere Frauen hat. Könnte eine Frauenquote auf Führungsebene diesen Effekt nicht beschleunigen?
Das verstehe ich. Und es ist sicher so, dass es starke Rollenvorbilder braucht. Aber ich denke, das geht auch ohne Quoten. Wir haben in der Eignerstrategie für die Eniwa beispielsweise festgehalten, dass wir Verwaltungsrat eine Vertretung beider Geschlechter zu mindestens 40 Prozent anstreben. Aber dazu brauchen wir auch geeignete Kandidatinnen und Kandidaten, ich will nicht jemanden in den Verwaltungsrat wählen müssen, einfach weil sie eine Frau ist.
Gibt es ein Stichdatum, auf das diese Strategie umgesetzt werden soll?
Nein, darum ist es ein Anstreben. Klar, das ist ein bisschen aufgeweicht.
Aber bei je 40 Prozent für Männer und Frauen blieben ja noch 20 Prozent für andere Geschlechter, immerhin!
Genau, das wäre theoretisch so!
Streiken die Frauen der Stadtverwaltung eigentlich morgen?
Das weiss ich nicht. Wir haben die Teilnahme allen offen gelassen; man muss die Arbeitszeit aber kompensieren. Dadurch, dass der Streiktag ein Freitag ist, sollte das für die meisten kein Problem sein, wir haben ja auch viele Leute, die Teilzeit arbeiten.
Bezeichnen Sie sich als Feminist?
Das würde ich von mir nicht behaupten. Ich käme mir eher seltsam vor, wenn ich sagen würde, ich sei Feminist.
Warum?
Ich glaube, es ist eine geschlechterbezogene Bezeichnung – und wohl eher den Frauen vorbehalten. Ich bin aber sicher für Gleichberechtigung.
Programm Frauenstreik in Aarau am 14. Juni 2019
11.00 Uhr, Rathaus: Verlesung Manifest
11. 30 Uhr, Haus Zur Zinne: Präsidentin Bea Bossard präsentiert die Gemeinnützige Frauen Aarau und erzählt von aufmüpfigen, gemeinnützigen Frauen aus den Anfängen
Podium mit den ersten Frauen mit Ämtern in der Aarauer Politik.
Ab 12.00 Uhr, Mittagessen gekocht von solidarischen Männern*.
12.30 Uhr, Buchhandlung Kronengasse: Inhaberin Ursina Boner präsentiert wichtige Bücher für die Frauenbewegung und Gleichstellung.
13.00 Uhr, Stadtmuseum: Direktorin Kaba Rössler über Fauen in den Medien.
Film «Diktatur» von Arthur Breuninger aus dem Jahr 1954 über das Komitee für Frauenstimmrecht in Aarau.
Frauenzentrale Aargau, Anlaufstelle für häusliche Gewalt: Von der Arbeit der Anlaufstelle und Forderungen zum Opferschutz.
13.30 Uhr, Haus zur Zinne: Besammlung Frauenstadtrundgang.
Ab 13.30 Uhr: Weitere Programmpunkte im Haus zu Zinne und im Pfarrhaus Peter und Paul.
15.30 Uhr, Schlossplatz: Sitzstreik des Aarg. Kath. Frauenbundes und der Landfrauen.
16.45 Uhr: Besammlung Demonstration auf dem Schlossplatz. Start: um 17.00 Uhr.
Anschliessend: Kundgebung auf dem Schlossplatz mit Reden und ab 19.00 Uhr Musik von «Jessiquoi» und «Odd Beholder».
Ab 21.00 Uhr, KIFF: Frauenstreik-Party.
Alle Infos unter: www.frauenstreik-aargau.ch