Tiefgekühlt entschlummert
Mina Gloor ist ganz entspannt. Sie steht mit einem Lächeln am Kochherd und bereitet das Essen vor. Äh, ja. Sie streut gerade Cherrytomaten, Rosmarin und die Mehlwürmer über den Focaccia-Teig. Ob die süssen Tierchen noch leben? Nein. Die hat Mina zu Hause bereits tiefgekühlt («Der Kältetod ist für die Tiere, als ob sie in einen Winterschlaf entschlummern, sie leiden nicht.»), aufgetaut und blanchiert. Genauso, wie es das Lebensmittelgesetz vorschreibt.
Das Kochen mit Insekten ist für Mina seit zwei, drei Jahren ein Hobby. Darauf gekommen ist sie am Arbeitsplatz, wo sie mit Reptilien arbeitet, die sie mit Insekten füttert. «Ich habe dann einfach mal ausprobiert, ob man damit auch einen Apéro machen kann.»
Zwei Drittel der Menschheit essen Insekten
Die Focaccia ist im Ofen. Langsam wird es ernst. Um uns Mut zu machen, hat Mina einen Vortrag vorbereitet. Was ich davon mitbekomme, macht mich baff: Insekten sind grossartige Tiere, die enorm wichtig sind fürs Ökosystem. Ausserdem sind sie dank ihrem Protein, essentiellen Aminosäuren und Ballaststoffen ein hochwertiges Nahrungsmittel. Zwei Drittel der Menschheit scheinen das bereits zu wissen. Denn so viele essen diese Dinger. In 90 Ländern gehören sie zum Speiseplan wie bei uns Rösti oder Teigwaren. Und dann ist da noch die Sache mit dem Fleisch und der Umwelt.
Die Lösung aller Ernährungsprobleme
Für ein Kilo Rindfleisch sind über 15’000 Liter Wasser nötig. Unsere Nutztiere produzieren fröhlich Treibhausgase, das Nebenprodukt Ammoniak übersäuert unsere Böden und für die Produktion der Futtermittel holzen wir die Regenwälder ab. Und wie ist das mit den Insekten? Statt für sie einen Regenwald zu killen, reichen ihnen Küchenabfälle als Nahrung. Und in der Zucht haben sie quasi in einer Schuhschachtel Platz. Zudem verbrauchen sie fast kein Wasser (2 Liter pro Kilo). Und von Insekten-Wahnsinn oder Mehlwurm-Grippe hat auch noch nie jemand etwas gehört. Kurz: Insekten sind die reinsten Nahrungs-Superhelden. «Sie sind gesünder als Fleisch, schonen das Klima und bieten genügend Nahrung – auch für die nächsten Generationen.»
Mehlwürmchen knabbern, Grillen kauen
Die Focaccia ist parat. Die gebackenen Mehlwürmchen sehen aus wie Rosmarin. Und, siehe da, sie schmecken auch. Ein bisschen wie Chips. Sogar die skeptische Rebecca leert ihren Teller. Wir alle sind ein wenig stolz. Bis der Salat kommt. So eine Grille ist verteufelt gross. Vor allem, wenn sie bäuchlings – alle Viere von sich gestreckt – auf einem Salatblatt vor dir liegt und dich aus toten Augen streng fixiert. Erinnert mich an Onkel Hans. Egal. Mina hat die Insekten zuvor liebevoll in der Bratpfanne geröstet. «Dadurch kommt ihr Aroma besser zur Geltung.» Ah, fein. Tapfer kaue ich zwei, drei dieser Dinger im Mund herum. Der süffige Weisse «Arneis Roero» aus dem Piemont hilft dabei.
Kratzen im Hals
Bei Rebecca regt sich leichter Widerwille. Auf ihrem Tellerrand eröffnet sie eine Grillen-Sammelstelle. Doch dann passiert es doch: Es kratzt in ihrem Hals. Sie hat versehentlich eine Grille verschluckt. Auch Nadine trägt zur Unterhaltung bei: «Jetzt habe ich seine Beine zwischen den Zähnen.» Ich will derweil kein Weichei sein, drapiere die Grillen jedoch vor dem Essen dezent unter die Salatblätter. Einfach nicht dran denken.
Ohne Kopf geht’s besser runter
Jetzt die Polenta. Ins bunte Ratatouille fügen sich die Tierchen harmonisch ein. Wenn ich die Brille abnehme, ist es noch besser. Der Geschmack ist ebenfalls in Ordnung. Ich esse das schon richtig routiniert. Nur einen Dämpfer gibt es noch: Eine Grille will und will sich zwischen meinen Zähnen nicht zermalmen lassen. Ihre Hülle gibt kaum nach. Mina vermutet, dass diese Grille kurz vor der Häutung stehe, darum habe sie einen doppelten Chitinpanzer. Rebecca hat derweil eine Methode entwickelt, um mit den Grillen fertig zu werden. Sie seziert eine davon mit Messer und Gabel, trennt Kopf und Beine ab, bis nur noch der Körper übrig ist. Derart entpersonalisiert kann sie diesen Happen nun viel besser essen.
Heuschrecke zum Dessert
Fehlt noch das Dessert. Ein Triumph der Kulinarik: Die in Schoggi gegossene Heuschrecke (Mina hat ihre Hinterbeine freundlicherweise schon entfernt) thront wie ein Monument auf meiner Vanillekugel. Erinnert mich ans Alien von H.R. Giger. Auch von der Grösse her. Ich mag das. Und wie es geschmeckt? Nun, ein Gentleman schweigt und geniesst.
Bonus
Wer ist der Retter und lebt ganz versteckt?
Das Insekt, das Insekt! Das Insekt, das Insekt!
Wer macht das Paradies auf Erden perfekt?
Das Insekt, das Insekt! Das Insekt, das Insekt!
Kri kri kri, kra kra kra,
das Insekt ist endlich da
Auszug aus dem Songtext «Das Insekt» von «Der Plan»
Hier Reinhören.
«Insectes à la Mina»
Focaccia mit Cherry-Tomaten, Kräutern und gebackenen Mehlwürmern
*
Bunter Salat mit gerösteten Grillen und Mehlwürmern
*
Polenta mit Grillen-Ratatouille
*
Vanille-Glacé mit schoggiummantelter Heuschrecke
und karamellisierten Mehlwürmern
Eine Kreation von Mina Gloor.
Kochtopf
In unserer Schlemmer-Rubrik gibt’s jeweils etwas Feines für die Augen und zwischen die Zähne. Dabei begleiten wir Köchin Rebecca Moser vom Einkauf übers Zubereiten bis zum Kochen und Essen eines Menüs. Rebecca interpretiert längst erprobte Gerichte neu, experimentiert mit der Wildkräuterküche und altem, unbeliebtem Gemüse. 2014 wurde Rebecca für ihre Kochkünste mit dem Umweltpreis der Stadt Aarau ausgezeichnet.
www.rebeccakocht.ch
FOTOGRAFIE
Valentina Verdesca ist freischaffende Fotografin aus Aarau. Ihre Schwerpunkte sind Portraits, Reportagen und Food. Letzteres mag übrigens nicht nur vor der Linse.
www.valentinaverdesca.com
TEXT
René Moor ist Texter/Konzepter in Aarau. Weil man Worte nicht essen kann, verbindet er in dieser Rubrik das Angenehme mit dem Nützlichen.
www.moortext.ch
STYLING
Mirjam Gremminger ist Stylistin aus Muhen. Sie verbringt jede freie Minute in Brockys und kennt mittlerweile jede einzelne davon in der Schweiz.
www.gremim.ch
ART DIRECTION
Andreas Ott ist Grafik Designer mit Geschäft in Aarau. Er legt sich mit seinem Team für diese Rubrik genauso ins Zeug wie danach beim Essen.
www.buero-ao.ch