Gastkommentar

Von der rosaroten zur Raver-Brille – Ein Wochenende in Berlin

Ein langersehnter (Geburtstags-)Wunsch ging vergangene Woche für uns beide in Erfüllung: Gemeinsam Berlin zu erleben. Über den Dächern Berlins haben wir auf Lydias Geburtstag angestossen und die darauffolgenden Tage in ihrer Heimatstadt verbracht. Ganz im Inside Aarau Stil haben wir uns Gedanken zur Stadt gemacht und Parallelen zu Aarau gesucht. Gerne möchten wir unsere Eindrücke von outside Aarau mit dir, liebe lesende Person, teilen.

Von Lydia Klotz und Eleonora Sartori

Titelbild: Saori Grignoli

 

Ich, Eleonora, war zum ersten Mal in Berlin. Von der Grossstadt hatte ich aber schon vieles gehört, denn Berlin ist Lydias Heimatstadt. Bevor sie in die Schweiz zog, nahm sie die U-Bahn zum Kindergarten, war oft von Menschenmengen umgeben und verbrachte ihre Freizeit auf Spielplätzen in riesigen Stadtparks. Endlich wurde mir die Möglichkeit gegeben, Lydias anschauliche Beschreibungen mit meinen eigenen Augen wahrzunehmen.
Bereits beim Ausstieg aus dem Zug wurde mir bewusst, dass es sich um eine sehr grosse Stadt handeln muss. Ich kam einige Stockwerke im Untergrund an und musste für das Tageslicht erst einmal eine Rolltreppe fahren. «Wir treffen uns beim Vapiano», war erst einmal eine Herausforderung, denn mein Orientierungssinn in Bahnhöfen hält sich in Grenzen. Aber einmal geschafft, nahm ich mit einer Freundin von Lydia den angeblichen Bus zu ihr nach Hause. «Angeblich» beschreibt die Reise ziemlich gut, denn natürlich stiegen wir in den Bus in die falsche Richtung ein. Ein Blick auf die Karte genügte, um sich der Grösse der Stadt bewusst zu werden, wir befanden uns in einem ganz anderen Stadtviertel Berlins. «Dann laufen wir eben der Einfachheit halber», war definitiv keine Option.
Ein unglaubliches Gefühl, zu realisieren, dass man sich in einer Metropole befindet. Im richtigen Bus kam ich nicht aus dem Staunen, denn jedes Quartier schien unglaublich divers und erlebte eine andere Stimmung.

Wie vorweggenommen, verbrachten wir Lydias Geburtstag wirklich über den Dächern Berlins im «Klunkerkranich». Bereits beim Anstehen fühlte man den urbanen Vibe, denn die Schlange verbreitete sich über ein Parkhaus-Stockwerk. Von da aus hatten wir eine unglaubliche Sicht auf die Skyline Berlins bei Sonnenuntergang. Wer Outfit-Inspirationen braucht, kann sich beim Schlangestehen umschauen. Jeder Style ist vertreten, spannende Kleider-Kombinationen (zur Zeit scheinen zartes Sommerkleid und grobe Stiefel und Lederjacke sehr im Trend) und immer ein Bier oder (Vodka-)Mate in der Hand, natürlich in einer Glasflasche. Sicher im Späti nebenan gekauft. Keine Person schien es zu kümmern, wie die anderen Personen aussehen, was sie sagen, wie sie sich benehmen… Wie toll?! Jede:r machte einfach sein Ding. Im Kulturgarten angelangt, kamen wir aus dem Schwärmen und Staunen nicht heraus. Für jede Person liess sich etwas finden. Von gemütlichen Sitzmöglichkeiten, vielseitigen Bars, und mehreren Clubs mit Livemusik bis hin zu einem Sandkasten. Und all dies mit Aussicht auf Berlins Dächer. Der perfekte Ort für eine Geburtstagsfeier.

[Gedankeneinschub Eleonora]: Ich konnte es kaum glauben, in Berlin zu sein. Und das an Lydias Geburtstag. Klar hatten wir immer darüber gewitzelt, ihren Geburtstag eines Tages in Berlin zu feiern. Klar hatten wir uns ewigs vorgenommen, dass ich ihr anderes Zuhause kennenlernen musste. Und doch, schien alles mehr nach einem Plan oder einem Punkt auf der Bucketlist. Nun, nach jahrelangem Träumen von dieser Möglichkeit, wurde der Plan in die Realität umgesetzt. Ich werde beim Schreiben dieses Gastkommentars ganz wehmütig, wenn ich an die wundervollen Tage zurückdenke und würde am liebsten gleich wieder in den Zug nach Berlin steigen. Ich vermisse Lydia, ich vermisse die Grossstadt, ich vermisse die Leichtigkeit, die Vielfältigkeit, die Menschen und den Vibe.

[Gedankeneinschub Lydia]: Ich konnte es kaum glauben, nun mit so guten Freundinnen und Cousinen über den Dächern Berlins zu feiern. Hatten wir meinen 18. Geburtstag über den Dächern Aaraus gefeiert, standen wir nun in einer Stadt, die halb so viele Einwohner:innen aufweist wie die gesamte Schweiz. Dass Eleonora nach all den Jahren nun hier bei mir war und wir gemeinsam auf das Spital blicken konnten, in welchem ich geboren wurde, war ein unbeschreibliches Gefühl. Dass wir zum Brainstorming für diesen Gastkommentar auf unserem Berliner Balkon sassen, war ebenso einmalig.

Nach einem guten Erholungsschlaf ging es auf «Touri-Tour», eines der Highlights definitiv das Tempelhofer Feld. Nach vielen Second Hand Shops, besonders vielen Bücher-Second Hand Shops, Flohmärkten, einem Kunstmarkt und unzähligen Eindrücken und Begegnungen war es Zeit für Erholung. Wir setzten uns gemütlich in den Park und genossen die Stimmung. Der ehemalige Flughafen Tempelhof, welcher während der Blockade Westberlins durch die Sowjets 1948-1949 durch US-amerikanische Flugzeuge benutzt wurde, welche die West-Sektoren aus der Luft versorgten (Berliner Luftbrücke), ist seit 2010 als öffentlicher Park zugänglich. Von Picknicks, zu Grillparties, zu kleinen Festzelten, Rollschuhfahren, Spazieren… eines ist klar, egal, in welche Richtung man schaut, alle unternehmen etwas anderes. Jede Gruppe macht ihr eigenes Ding, und doch verbringen irgendwie alle Anwesenden gemeinsam Zeit im Park. Bei dem tollen Wetter mussten wir natürlich Bilder machen und hatten die Idee, mit Selbstauslöser witzige Himmel-Bilder zu machen, in denen es erscheint, als wären wir über den Wolken. Ganz im Stil von Reinhard Mey, denn «über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein».
Nach einigen Fotos wurde es uns etwas peinlich und wir schauten nach links und rechts, um zu sehen, ob Leute uns beobachten oder gar am Auslachen sind. Aber nichts! Den umliegenden Personen schien es nicht gleichgültiger zu sein, was wir für «Seich» machen. Es ist schwer zu beschreiben, wie angenehm es sich anfühlt, dass man einfach sich selbst sein kann, sein Ding durchziehen kann – ein Gefühl der Freiheit und Schamlosigkeit.

Obwohl so viele Menschen durch die Strassen Berlins laufen, gibt es so viele ruhige Rückzugsorte. Befindet man sich in diesen, kann man sich die Menschenmengen kaum vorstellen, inmitten derer man sich gerade eben erst noch befand. Wie in Aarau mögen wir die kleinen Strassen und Gässlein fernab des Trubels. Berlin hat in relativ kurzer Zeit sehr viele verschiedene Perioden in der Geschichte erlebt. Das spürt man hier bei jedem Schritt. Altbauten und Neubauten, um Kriegslücken zu schliessen, Stolpersteine, welche an die jüdischen BewohnerInnen erinnern, die deportiert wurden, unterschiedliche Ampelmännchen im ehemaligen Ost- und Westberlin, Gebäude mit Einschusslöchern und Fragmente der Mauer. Kein Wunder, dass diese Stadt so viele KünstlerInnen inspiriert hat und es immer noch tut. Wie fasst es David Bowie in seinem Song «Heroes» so schön zusammen?

I can remember (I remember)
Standing, by the wall (by the wall)
And the guns, shot above our heads (over our heads)
And we kissed, as though nothing could fall (nothing could fall)

Auch kulinarisch kann man sich hier verwöhnen lassen und findet an jeder Ecke eine andere Geschmacksrichtung. Obschon durch die Inflation teurer geworden, im Vergleich zu Aarau aber dennoch meistens bezahlbar. Nur die (vegane) Curry-Wurst steht noch an für den nächsten Berlin-Besuch.

Am dritten Tag entschieden wir uns, in den Tresor, einen der bekannten Techno-Clubs der Stadt, zu gehen. Als wir nach Stunden zwischen Nebel, Rauch und beats wieder Tageslicht sahen, hatten wir unsere rosarote Brille gegen eine raver-Brille (und ja die trägt man hier auch, wenn die Sonne nicht scheint, weil cool und so) ausgetauscht.

So begeistert wir von der Metropole auch sein mögen, denken wir während unseres Aufenthalts doch des Öfteren an unser geliebtes Städtchen inmitten des Aargaus. Bei einem «nee mit dem Bus könnt ihr nich fahren, ick nehm euch nicht mit», sehnen wir uns nach den netten Aarau Busfahrer:innen. Beim engen Stehen in der U-Bahn fühlten wir uns wie Sardinen in einer Büchse, der Schweiss tropfte, Sauerstoff? Fehlanzeige. Wie schön wäre es jetzt, einfach mit dem Velo (das Wort versteht hier keiner, man sagt Fahrrad) den Aarauer Graben entlang zu fahren? Sich spontan umzuentscheiden, von Metro auf Fahrrad oder zu Fuss, da die Distanzen innerhalb Aaraus dies erlauben? Auch einmal ganz alleine spazieren, ohne einer Menschenseele zu begegnen, um die Eindrücke zu verarbeiten? Einfach mal 10 Minuten ohne Blaulicht-Sirene? Kein Döner-Geruch morgens um 7 auf dem Weg zur Arbeit. Einfach mal wieder die Alpen sehen…

[Gedankeneinschub Eleonora]: Jeden Abend fragte mich Lydia nach einem kleinen Tagesfazit zu Berlin in drei Worten. Über das verlängerte Wochenende sind die Begriffe ziemlich konstant geblieben: «gross, vielseitig und offen». Vielleicht als Denkanstoss oder lustiges Gedankenspiel an dich, liebe lesende Person, wie würdest du Aarau in drei Worten beschreiben? (Falls du Lust hast, freuen wir uns gerne über Nachrichten via Instagram @insideaarau.)

Wir liessen unser verlängertes Wochenende im alternativen Kulturareal Holzmarkt ausklingen. Entlang der East Side Gallery suchten wir uns unseren Weg dorthin und sahen prompt ein Auto aus Schaffhausen. Ob es zu dem Schweizer gehörte, welchen wir vorhin in dem hippen Michelberger Hotel in der Warschauer Strasse gesehen haben? Überall unternahmen wir natürlich Vergleiche mit Aarau. Der Stil im Holzmarkt war etwas wie in der Alten Stadtgärtnerei. Nicht an der Aare, aber an der Spree. Hier blühen gerade die Linden. Unsere Birkenstocks wären fast auf der Straße kleben geblieben, in dem Sirup, den all die Läuse zurücklassen. Rund ⅓ aller Bäume in Berlin sind Linden. Was ist wohl die dominante Baumart in Aarau? Sind es Kastanien? oder Platanen? Zum Abschluss ein Abstecher zu einem der alten Schwarz/weiss-Fotoautomaten durfte natürlich zur Erinnerung nicht fehlen. Nachts um eins kamen wir dort mit englischen Tourist:innen ins Gespräch «yes, it takes a while.»

Was für eine tolle Gelegenheit, die uns von @weloveaarau gegeben wurde. Mit diesem Gastkommentar, welcher fast die Funktion eines Tagebuches übernimmt, durften wir unsere Gedanken zur Berlinreise verarbeiten und mit dir, liebe lesende Person, teilen.

Uns fragten viele Menschen, ob wir nun auch ein inside berlin lancieren. Aber das überlassen wir für den Moment lieber anderen (und es gibt schon unendlich viele tolle Berlin blogs). Vielleicht würden wir uns mal einem Stadtteil widmen?
Berlin ist toll, Aarau ist es aber auch: we (still) love aarau too.