Zeitreise

Legendäre Aarauer Wirtinnen

Dass in der Gastronomie häufig Frauen das Zepter schwingen, ist eine allgemeine Erscheinung. In der Geschichte der Aarauer Restaurants aber ist die Fülle von herausragenden Wirtinnen besonders gross. Man erinnert sich an Persönlichkeiten wie Erika Pauli (Bahnhof-Buffet), Erna Holzach (Café Bank), Rösli Scheidegger (Krone), Luci Speck-Spadetto (Affenkasten Brötli-Bar, Speck), an Rosa Egger-Mürset (Mürset) oder Trudi Suter (Rendez-vous), die sich jeweils gegen eine vorwiegend männliche Gästeschar mit Herzblut, wenn nötig aber auch mit angeborener Robustheit behaupteten. In einer willkürlichen Auswahl sollen drei markante Vertreterinnen ihres Fachs speziell gewürdigt werden.

Von Hermann Rauber

 

Natalina Vaccani war das Kind einer italienischen Familie, die um 1900 vom Comersee in die Schweiz eingewandert war. Sie wuchs mit zwei Schwestern und zwei Brüdern im Schachen auf, wo ihr Vater das Restaurant Eintracht führte, das im Volksmund bald «Vaccani» hiess. Nach Lehr- und Wanderjahren kehrte die gelernte Damenschneiderin in ihre Heimatstadt zurück. Nach dem Tod von Vater Cesare Vaccani 1957 übernahm «Nati» zusammen mit ihrer Schwester Irma die alleinige Verantwortung für das Lokal am Viehmarktplatz. Unter ihrem fröhlichen, aber bestimmten Regiment entstand die Aarauer «Riviera». In den Sommermonaten traf sich im «Vaccani» unter den Bäumen tout Aarau, wobei es die Wirtin dank ihrem offenen und herzensguten Wesen verstand, die unterschiedlichsten Gäste zu einer grossen Familie zu vereinen. Zum südländischen Flair trugen im Hinterhof eine heimelige Bocciabahn und die Spaghetti nach altem Familienrezept («alla casalinga») bei.

Die Rettung des Zirkus Pilatus


Mit ihrem sprichwörtlichen Temperament konnte und wollte Natalina Vaccani ihre Herkunft nicht verbergen, obwohl sie längst zu einer glühenden Aarauerin geworden war und sogar das Ortsbürgerrecht erwarb. Besonders verbunden war sie den Zirkusleuten, die jeweils bei ihr einkehrten. Noch heute unvergesslich ist ihr persönlicher Einsatz für den Zirkus Pilatus, der ausgerechnet beim Gastspiel in Aarau zahlungsunfähig wurde. «Nati» ergriff ohne Umschweife die Initiative und organisierte unter der Bevölkerung eine einmalige Rettungsaktion. Noch heute erinnert der Begriff «Riviera Vaccani» für die äusserste der drei Schachen-Beizen an die goldenen Zeiten, in denen das «Nati» als städtische Institution ihre Spuren hinterlassen hat.



Nati Vaccani

Mina Frey und ihre «Frauen-Brigade»


Nicht minder berühmt war eine andere Gastgeberin, die Generationen von Aarauerinnen und Aarauern geprägt hat. Fast ein halbes Jahrhundert lang wirtete Mina Frey-Zimmerli (auf dem Titelbild) auf der «Kettenbrücke» am Zollrain. 1935 begann die junge Frau zusammen mit ihrem Ehemann Emil Frey eine Ära, die mit dem jähen Tod des Patrons 1960 ein Ende zu nehmen drohte. Doch Mina Frey übernahm die Verantwortung für das Hotel und das Restaurant bis 1982 allein, unterstützt durch die legendäre «Frauen-Brigade», die vor allem im grossen Saal (der vor Jahren abgebrochen worden ist) für das leibliche Wohl sorgte. Denn hier fand ein guter Teil des städtischen und gesellschaftlichen Lebens statt, von Banketten über Volksversammlungen bis zu Vereinsabenden. So trat der junge Kantonsschüler Pepe Lienhard mit seiner ersten Big Band in der «Kettenbrücke» auf.

Bei Mina zu Gast waren etwa die Pontoniere, die Fischer, Mitglieder des Lions Clubs, Kavallerie-Rekruten, aber auch Stadtpolizisten oder Pfarrherren. Zu den Spezialitäten auf dem Teller gehörten jeweils anfangs Jahr «Ballen»-Fische nach altem Familienrezept. Wer bei der Wirtin einen besonderen Stein im Brett hatte, durfte bei speziellen Anlässen mit dem berühmten «goldenen Besteck» tafeln. Mina Frey rechnete mit dem Personal nach einem Couponsystem ab, das für Aussenstehende ewig ein Geheimnis blieb. Obwohl die Wirtin vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Beinen war, hatte sie für ihre Gäste immer ein offenes Ohr und schätzte einen kurzen Schwatz.



Jeannette Bettenmann-Berset (Quelle: AZ-Archiv)

«La patronne» Jeannette Bettenmann


Mitten im Krieg kam 1943 Jeannette Berset als Angestellte in den «Goldenen Löwen» zu Hotelier Werner Scherz nach Aarau. Die gebürtigen Welsch-Freiburgerin begann ihre selbständige Wirtinnen-Karriere nach der Heirat mit Kari Bettenmann 1954 im längst verschwundenen Restaurant Grabenallee am Rande der Altstadt. 1962 wagte sie den Sprung in die Vorstadt, in die ehemalige Wirtschaft Hug, im Volksmund «Hugei» genannt. Sie baute nicht nur das Haus aus dem 18. Jahrhundert um, sondern setzte auch neue Massstäbe im gastronomischen Angebot und gab dem Lokal mit «Chez Jeannette» einen weltmännischen Namen mit französischem Flair. Statt Wurstsalat und russischen Eiern gab es Fleisch-Fondue auf der Karte, damals für Aarau eine geradezu revolutionäre Novität. Bis 1985 fungierte Jeannette Bettenmann als charmante, manchmal resolute und oft auch humorvolle Gastgeberin in ihrem Restaurant, wobei sie ihren köstlichen Mundart-Accent mit welschem Einschlag als Markenzeichen behielt.
Die «patronne» blieb auch nach ihrem Rückzug aus dem Tagesgeschäft ihrer bunten Gästeschar persönlich verbunden und war als fröhliche Frau und interessierte Gesprächspartnerin weitherum gefragt. Ein später Höhepunkt in ihrem langen Leben war die Wahl ihres Grossneffen Alain Berset im Dezember 2011 in den Bundesrat, über die sich von Herzen freute. Es war Ironie des Schicksals, dass im Frühling 2014 mit dem Tod der ehemaligen Wirtin auch die Ära von «Chez Jeannette» (heute Beluga) zu Ende ging.
Titelbild: Mina Frey und ihre Töchter Ruth und Dora. (zvg)