Zeitreise

Ode an den Stammtisch

Noch vor 50 Jahren wussten regelmässige Beizengänger in Aarau sehr genau, wer sich wann und in welcher Wirtschaft jeweils zum Stammtisch versammelte. Die erste Blütezeit solcher Zusammenkünfte in häufig geschlossener Runde lag im vereins- und festfreudigen 19. Jahrhundert. Am Stammtisch trafen sich Gleichgesinnte, praktisch ausschliesslich Männer, oder auch eine eher zufällige Gemeinschaft, die sich vornehmlich am Feierabend nicht nur einen Schoppen Wein oder ein Bier gönnte, sondern auch politischen Diskussionen frönte und Neuigkeiten aus dem städtischen Leben austauschte. Heute ist dieses «Netzwerk» aus der guten alten Zeit praktisch vom Aussterben bedroht oder zumindest ein gesellschaftliches Auslaufmodell.

Von Hermann Rauber

Bilder: Sammlung Stadtmuseum

 

Ein wahrer Stammtisch-Hotspot war einst das Restaurant Affenkasten. Hier verkehrten regelmässig Mitglieder des BTV Aarau, Aktive und Altherren des Kantonschülerturnvereins KTV, Angehörige des Alpenclubs oder Aarauer Stadtsänger, die ihre meistens gekennzeichneten Tische belegten, sei es täglich, wöchentlich oder nur einmal im Monat. Beliebt für solche Zwecke war auch die geräumige Gaststube des alten «Aarauerhofs», allwo sich etwa die Kantonsschülerverbindung Industria oder die Gesellschaft der Reitsektion Arizona zum Umtrunk und allerlei Schabernack einfanden.
Etwas gediegener ging es im längst verschwundenen Bahnhofbuffet zu und her, hier pflegten Lehrer der nahen Kantonsschule ihre Zwischenstunden oder den Samstagmorgen im angeregten Gespräch oder auch nur bei der Zeitungslektüre zu verbringen. Südlich der Bahngleise, in der ehrwürdigen «Gais», traf man im hinteren Teil ein buntes Gemisch mit Ärzten vom Kantonsspital, Architekten und Unternehmern vom benachbarten Torfeld Süd an, während ein paar Meter entfernt im rustikalen Abschnitt Arbeiter den Durst löschten. In der «Kettenbrücke» am Zollrain stand der grosse Stammtisch der Pontoniere, ab und zu auch belegt mit Militärpersonen aus dem mittleren Berufskader.

Treffpunkt der «Haldenbauern»


Im einstigen «Haldebeizli», einem ehedem typischen Quartierlokal, residierten die eingeborenen «Haldenbauern», ein bunt gemischtes Völklein, das aber wie Pech und Schwefel zusammenhielt. Es waren allesamt «Charakterköpfe», die es im Leben oft nicht einfach hatten, am Stammtisch aber die Fahne der Fröhlichkeit und des Humors hochhielten. Einer von ihnen, der SBB-Angestellte Röbi Achermann, brachte es gar zum scherzhaften Ehrentitel «Haldenbaron», der auch in der oberen Stadt, im «Sevilla», verkehrte. Auch dort existierte ein Stammtisch, an den man sich allerdings durch jahrelange Treue zum Lokal erst «emporschaffen» musste.

Gewerbler und Fussball-Familie


Im ehemaligen «Salmen» an der Metzgergasse (heute «Spaghetti Factory») gaben sich vor Zeiten Gewerbler und Ladenbesitzer die Türe in die Hand. Bereits morgens um 10 Uhr genoss man den Frühschoppen und besprach bei einem sauren Läberli die aktuellen Ereignisse der Stadt, während im Geschäft vornehmlich die Ehefrauen und die Lehrbuben die Kundschaft bedienten. Später etablierte sich ein Kreis aus Gewerbetreibenden in der Altstadt, der so genannte Salami-Club, am Stammtisch in der «Ratsstube», wo man sich in Sichtweite des unteren Rathauses kritisch zur Aarauer Politik äusserte. Und in der «Altstadt» gehörten der Stamm- und andere Tische nach dem sonntäglichen Match auf dem Brügglifeld der FC-Aarau-Familie, die zum krönenden Abschluss des Abends jeweils mit Inbrunst das «Wolgalied» sang.

«Bitte um ein gnädiges Urteil»


Im Café Bank gab es gleich mehrere Stammtische, nämlich jenen der Schützengesellschaft (mit Wappenscheiben und Stabellen) und jenen der Pöstler, vornehmlich Briefträger, die sich nach ihrem strengen Tag zum Becherlupf einfanden. Gleich nebenan legten die Redaktoren und Journalisten des Aargauer Tagblatts am späten Nachmittag eine Bierpause ein, ehe es zum Endspurt der nächsten Zeitungsausgabe zurück ins Büro ging. Einen gefürchteten Stammtisch gab es auch im «Rendez-vous», gleich links vom Eingang, von dem aus jeder neue Gast mit Argusaugen und entsprechenden Kommentaren gemustert und klassifiziert wurde. Das wusste auch der eifrige Stammtischbesucher Gustav Aeschbach, der sich jeweils beim vorzeitigen Verlassen der Runde mit folgendem Spruch verabschiedete: «Ich bitte um ein gnädiges Urteil».

Wiege des Fünfliber-Clubs


Etwas offener gestaltete sich die tägliche Runde im Restaurant «Chez Jeannette» an der Vorderen Vorstadt, an der auch Frauen ihren Platz fanden. Dort ist aus einem losen Stamm vor Jahrzehnten sogar Bleibendes entstanden, nämlich der Aarauer Fünfliber-Club (mehr davon in einer nächsten «Zeitreise»), der noch heute in schönster Blüte steht. Sonst aber ist der klassische Stammtisch nach einem kurzen Aufschwung in den konjunkturell boomenden und deshalb sorgenfreien 1980er Jahren zu einem Auslaufmodell geworden, nicht zuletzt wegen der geänderten Lebensgewohnheiten, in denen der Feierabendschoppen in froher Runde keinen Platz mehr hat.