Stadtkinder

Ich leide unter «Revenge Bedtime Procrastination»

Wer kennt es nicht? Es ist Abend, die Kids liegen endlich im Bett und obschon einem die Augen fast zufallen, verbringt man noch etwas «Zeit für sich». Da der Tag schon anstrengend war und es schon spät ist, reicht die Energie kaum für eine sinnvolle Tätigkeit, weshalb man schnell die Fernbedienung, das Smartphone oder Ähnliches zur Hand nimmt. Wertvolle Erholungszeit verbringen wir mit ziellosem Zappen, Scrollen, Swipen und erreichen dabei zwar kurzfristig Glücksgefühle, rückblickend aber keine Befriedigung.

Von Sara Müller-Bresciani

Jetzt ist sie da, die Zeit, in der es am Nachmittag rasch dunkel wird und am Morgen, wenn man in den Tag starten sollte, immer noch dunkel ist. Rechtzeitig aufzustehen ist für mich in dieser Zeit eine Challenge. Früh ins Bett zu gehen, würde sicherlich helfen, ich wäre vermutlich erholter und dadurch entspannter. Gelassenheit im Alltag mit Kindern ist Gold wert, das weiss ich zumindest theoretisch. Da die Kinder auch immer früher aufstehen müssen und sie später ins Bett gehen, verkürzt sich die Schlafphase ohnehin schon drastisch. Wieso also nicht öfters etwas «früher» ins Bett gehen, sich gut erholen, um dann gestärkt und entspannt in den Tag starten? Nach einem langen, anstrengenden Tag freue ich mich, sobald die Kinder endlich im Bett sind, auf den Feierabend. Diesen auszulassen, fällt mir schwer, ich brauche dann noch etwas Zeit für mich.

Auch wenn ich es mir fest vornehme, scheint mich zu diesem Zeitpunkt das verflixte Netflix sowie mein Smartphone magisch anzuziehen. Ich mache mich oft schon bettfertig, doch dann liege ich auf dem Sofa oder im Bett, weil für mehr Aktivität ab 22 Uhr schlicht die Energie fehlt. Es wäre eigentlich ein Leichtes, das Licht auszuknipsen und zu schlafen, denn müde bin ich sowieso immer. Aber was hab’ ich dann noch für Me-Time gehabt heute, wenn ich jetzt schon schlafe? Ich nehme mein Smartphone zur Hand und da es eben «smart» ist, führt es mich von der einen App zur anderen, ohne dass ich das eigentlich will. Denn immer wieder poppt irgendwo etwas auf, das mich vermeintlich interessiert oder etwas, das ich noch abchecken wollte. Sobald ich mich endlich entscheide, den Wecker zu stellen, erschrecke ich, als ich die Uhrzeit sehe. Es ist bereits 00.48 Uhr. In rund fünf Stunden klingelt der Wecker und ich muss mit den Kindern in den Tag starten. Todmüde und mit schlechtem Gewissen schlüpfe ich unter die Bettdecke und denke dabei «Ach hätte ich doch… morgen mache ich es besser.»

Vor Kurzem wurde in meinem Freundeskreis genau über solches Verhalten gesprochen – ich erkannte die Muster sofort wieder und musste schmunzeln, da ich feststellte, dass auch andere diese Situation so oder ganz ähnlich erleben. Was ich bisher nicht wusste, war, dass ein solches Verhalten tatsächlich sehr weit verbreitet ist, erforscht wird und einen eigenen Namen hat. Unter «Revenge Bedtime Procrastination» versteht man den stetigen Schlafaufschub. Meist ist man todmüde und schafft es aber nicht frühzeitig ins Bett. Am Ende des Abends hat man die Zeit eher unbewusst verbracht und sich dadurch auch die Erholungszeit unbewusst und doch künstlich verkürzt – dies ohne triftigen Grund. Das Gefühl einer befriedigenden Me-Time bleibt dabei meist auf der Strecke und fitter ist man am nächsten Tag auch nicht. Betroffene verlieren sich in den Weiten des World Wide Webs, Netflix oder in irgendwelchen Games und vertrödeln wertvolle Zeit. Vor allem ist dieses Phänomen auch bei Eltern weit verbreitet, die durch ihren Alltag mit Kindern, Job und weiteren Verpflichtungen oft über wenig bis keine selbstbestimmte Zeit verfügen. Es scheint, als würde man sich etwas selbstbestimmte Zeit mit diesem Verhalten zurückholen, doch meist reicht die Energie am Abend nicht mehr für grössere, sinnvolle Tätigkeiten. Obschon
man weiss, dass dies nicht der beste Weg ist, sich aktiv zu erholen, ist es herausfordernd, sich selbst zu regulieren und man fällt immer wieder auf diese illusorische, «selbstbestimmte Zeit für sich» herein. Man meint, sich etwas Gutes zu tun, schliesslich hat man sich das «verdient».

Ich möchte tatsächlich gelassener durch den Tag, weshalb ich die gesammelten Tipps aus dem Netz (!) ausprobieren werde. Ich setze den sympathischen Tipp ein, mir tagsüber mehr bewusste Pausen einzuräumen. Als weitere Massnahme vereinbare ich mit mir selbst eine realistische Bettzeit. Mit dem Tipp, alle Bildschirme 30 Minuten vor dem Zubettgehen abzuschalten, tue ich mich noch etwas schwer, denn falsch eingesetzt, verzögert dies auch irgendwie wieder den Zeitpunkt schlafen zu gehen… aber ja, richtig angewendet, wäre es bestimmt ein Versuch wert. Als weitere Massnahme wird empfohlen, alle Bildschirme aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Auch dieser Tipp lässt sich bei mir einfach umsetzen, da ich keine fixen Bildschirme im Schlafzimmer habe. Es heisst zudem, dass neue Rituale auch helfen können, den Schlafaufschub zu durchbrechen. Ich könnte also in Zukunft als Feierabendritual einen Entspannungstee trinken und den Tag nochmals Revue passieren lassen. Mein Ziel ist es, wieder früher ins Bett zu kommen, mich aktiv zu erholen. Denn wenn es mir gelingt entspannter zu sein, ist es für alle entspannter. (M)ein guter Vorsatz für die Adventszeit.