Gastkommentar

Tod

Wer ist wichtig im Leben und im Tod, aus Aarauer Sicht?

Von Stephan Müller

 

 

 

 

Christiane Brunner, geboren 1947, wurde zur Ikone. Sie war von 2000-2004 Präsidentin der Sozialdemokratischen Partei. Unter ihrer Präsidentschaft erreichte die SP bei den Nationalratswahlen 2003 23,3 Prozent der Wähler:innenstimmen. Das war damals das höchste Resultat seit 1979, und ein solches Resultat wurde seither auch nie mehr nur annährend wieder erreicht. Unter Christiane Brunner erreichte die SP also das absolut höchste Resultat in den letzten 46 Jahren. Zufall?

Davor hatte Christiane Brunner verschiedene Funktionen in der Schweizerischen Gewerkschaftsbewegung inne. 1982 bis 1989 war sie Präsidentin des Schweizerischen Verbandes des Personals öffentlicher Dienste (VPOD). Von 1992 bis 2000 war sie als erste Frau SMUV-Zentralpräsidentin (der Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeiterverband SMUV fusionierte 2004 mit anderen Gewerkschaften zur heutigen Unia). Und von 1994 bis 1998 war sie auch als erste Frau (und bisher einzige Frau!) Ko-Präsidentin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Und untrennbar verbunden mit ihrem Namen ist der Frauenstreik am 14. Juni 1991 und die Bundesratswahl vom 3. März 1993. Der Frauenstreick vom 14. Juni 1991 war so sensationell erfolgreich, dass Christiane Brunner im Herbst 1991 in den Nationalrat gewählt und eineinhalb Jahre später auch als SP-Bundesratskandidatin nominiert wurde, in einer Zeit, als noch alle sieben Bundesräte ausschliesslich Männer waren. Wie reagierte das bürgerliche Parlament auf diese Herausforderung? Sie wählte einen Mann, der gar nicht nominiert war. Der dann eine Woche später zugunsten einer Frau verzichtete oder verzichten musste. An diesem Tag eine Woche später wurde Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt, Christiane Brunner wurde erneut übergangen. Wie sollte auch ein bürgerliches Parlament einen Fehlentscheid zugeben können. Ausgeschlossen!

Erst nach dieser berühmt-berüchtigten Nicht-Wahl als Bundesrätin wurde Christiane Brunner später erfolgreiche schweizerische Gewerkschaftspräsidentin wie auch höchst erfolgreiche SP-Präsidentin. Und zog sich 2007 als Ständerätin von Genf als erst 60jährige aus der schweizerischen Politik zurück.

Ich habe Hochachtung vor Christiane Brunner. Sie ist und war einer meiner liebsten Politiker:innen, die ich je in der Schweiz verfolgt habe. Sie war ehrlich, klar, kämpferisch und bescheiden. Gerade jetzt im unmittelbaren Vorfeld vor den 1.Mai-Feiern überall in der Schweiz darf und soll man sich an sie erinnern, an sie, welche über Ostern kürzlich verstorben ist. Ich liebte sie als Politikerin.

Ja, auch der Papst ist über Ostern gestorben. Die Zeitungen sind voll davon. Er hatte sicher seine Verdienste. Aber sein Tod berührt mich viel weniger als der Tod von Christiane Brunner. Wenn man das so einfach vergleichen darf. Sich für Frauen einzusetzen, wie das Christiane Brunner so eindrücklich gemacht hatte, war dem Papst in seiner Tradition schlussendlich fremd. Darin könnte seine Tragik liegen oder die Tragik seiner Tradition. Der nächste Papst kann und wird auch nur wieder ein Mann sein, und seine Wähler sind auch ausschliesslich Männer, Kardinäle.

Am gleichen Tag wie der Papst, am Ostermontag, ist auch der berühmte Germanist Peter von Matt gestorben. Er war Professor zur Zeit, als ich in Zürich Germanistik studiert hatte. Ich mied seine Vorlesungen und Seminare. Zuviel war Show und auf Effekt gerichtet in seinen Reden, schon damals. Es hatte sich später nicht geändert, er wurde erfolgreich, er gewann viele Preise. Der Respekt für seine Leistung blieb bei mir klein. Und das bleibt auch so, trotz dem Tod von ihm.

Da sind drei mehr oder weniger berühmte Menschen über Ostern nun gestorben. Und meine Gedanken begleiten sie. Und ich merke, ich nehme und nahm sie sehr unterschiedlich wahr.

Vor Christiane Brunner habe ich höchsten Respekt. Vor dem Papst ein wenig. Vor Peter von Matt keinen. Ist das schlicht menschlich? Sollte man nicht alle Toten gleich achten? Ich weiss es nicht. Ich glaube kaum.

Vielleicht habe ich den Blick nun zuweit gefasst. Eigentlich geht es ja in dieser Kolumne um Aarau. Aber auch in Aarau liest man von all den Menschen, die leben und sterben. Insofern ist die Welt von Aarau auch die Welt, die Schweiz, mit all den Lebendigen und Gestorbenen von hier und dort.