Gastkommentar

Von Aarau aus denken

In Aarau von Aarau her etwas denken? Das geht!

Von Stephan Müller

 

 

 

Wenn ich in Aarau bin und hier denke: Ist dann mein Denken «aarauisch», egal über was ich nachdenke? Es muss also kein Aarau-Thema sein noch ein Denken, das vom Ort «Aarau» irgendwie geprägt ist, sondern schlicht die Tatsache, dass ich zufällig in Aarau bin, kann bedeuten, dass ich irgendeinen Gedanken, den ich in Aarau habe, als «aarauisch» bezeichnen kann? Beispielsweise diesen hier: Trump sei verurteilt worden von einem Geschworenengericht.

Dann könnte also meine Kolumne jedes mögliche Thema behandeln, und es wäre «aarauisch» und passte so auch zu dieser Aarauer Website, wo diese Kolume erscheint? Das kann man so sehen.

So heissen die «Svendborger Gedichte» von Bertolt Brecht schlicht so, weil er sie in Svendborg geschrieben hat, obwohl die Themen der Gedichte keineswegs Svendborg thematisierten. Eines seiner berühmtesten Svendborger Gedichte heisst «Fragen eines lesenden Arbeiters» und behandelt die Klassenverhältnisse überall auf der Welt. Auch die «Hamburgische Dramaturgie» von Gotthold Emphraim Lessing behandelte nicht in erster Linie Hamburg, sondern das Theater und die Theatertheorie ganz allgemein, er entwickelte jene einfach anhand seiner Kritiken von Aufführungen des «Deutschen Nationaltheaters» in Hamburg.

Letzteres zeigt ein Modell auf: Anhand von Erlebnissen an einem Ort können Gedanken ganz generell zu einem Thema gemacht werden, die zwar genau so gut auch von woanders gemacht werden könnten; sie werden aber schlicht ausgehend vom Ort, man gerade ist, tatsächlich gemacht.

Das bringt mich zum Gedanken, ob ich in Aarau – von Aarau her denkend – über ein Thema nachdenken kann, das mich momentan auf verschiedene Art beschäftigt: Die Mehrsprachigkeit oder das Bilinguale. Nun liegt Aarau natürlich nicht auf einer Sprachgrenze wie Biel/Bienne oder Freiburg/Fribourg, wo sich solche Gedanken aufdrängen können. Aber von Aarau her lässt sich Bilinguales durchaus denken, mit Beispielen in Gegenwart und Geschichte.

Eine offizielle Partnerstadt von Aarau ist seit 1997 Neuenburg/Neuchâtel. Ich erinnere mich, dass  ich bei einem offiziellen Treffen mit Fondue-Essen als Einwohnerrat in den Nullerjahren in Neuenburg dabei war. Die Stimmung war heiter und leicht. Zudem verbindet auch eine Art «Republikanismus» Aarau und Neuenburg: Während Aarau Hauptstadt der Helvetischen Republik von 1798 war, ist Neuenburg heute noch Hauptstadt von «République et Canton de Neuchâtel».

Der Basler Peter Ochs, der die Helvetische Republik von 1798 in Aarau ausgerufen hatte, war nicht nur der helvetische Verfassungsschreiber, sondern auch Schriftsteller, Theaterautor und Dichter. Er schrieb fast alles auf Französisch! Eben habe ich Theaterstücke von ihm wieder gelesen und frage mich, wie und wo man diese aufführen könnte. Am besten ursprungsgemäss auf Französisch in der Romandie? Oder dann doch auf deutsch übersetzt in Aarau oder Basel? Und wie kann ich Kontakt über den Röstigraben pflegen, wenn ich das angehen wollte?

Ich habe mich letzthin wieder mit dem «Helvetischen Volksblatt» beschäftigt. Diese Zeitung gründeten die Helvetischen Räte 1798 in Aarau, sie sollte die Revolution popularisieren. Als Redaktor wurde Heinrich Pestalozzi gewählt. Die erste Nummer dieses Volksblattes wurde schweizweit am 8. September 1798 verteilt. Zehn Tage später verliessen Räte und Regierung Aarau und Luzern wurde neue Hauptstadt der Republik. 1799 ging das «Helvetische Volksblatt» nach 19 erschienen Nummern schon wieder ein. So steht es im Historischen Lexikon der Schweiz. Ich habe mir sämtliche Ausgaben dieses Volksblattes vor einiger Zeit antiquarisch erstanden.

Was ich nun aber neu entdeckt habe, und was äusserst selten in der Geschichtsschreibung irgendwo steht, ist, dass es auch eine französischsprachige Ausgabe des «Helvetischen Volksblattes» gab, das gleichnamige «Feuille populaire helvétique». Es startete ein paar Wochen später und es erschienen 14 Nummern davon. Zum Teil waren die deutschsprachigen Artikel einfach auf Französisch übersetzt, es gab aber auch eigenständige oder veränderte Artikel im «Feuille populaire helvétique». Somit ist diese in Aarau im Helvetischen Parlament beschlossene und gegründete Zeitung wohl das erste bilinguale Blatt der Schweiz – und bis heute gibt es kaum bilinguale Nachfahren.

Was ich schade finde. Denn ein bilinguales Blatt, gerade auf Französisch und Deutsch, würde der Schweiz guttun. Insbesondere die Deutschschweiz könnte von der französischsprachigen Minderheit lernen und profitieren.

Im übrigen: Beschäftigt man sich mit den Hauptstädten der Schweiz, sind auch zwei «lateinische» Städte darunter. Lausanne war vier Jahre nach Aarau 1802 für eine kurze Zeit Hauptstadt der Helvetischen Republik. Und 1800 Jahre früher war Aventicum (das heutige Avenches am Murtensee) für viele Jahre Hauptstadt des römischen Helvetien.

Avenches und Aarau zusammen ergäben somit eine schöne bilinguale Partnerschaft ehemaliger Hauptstädte.

So enden also meine Gedanken hier. Bilingualität – von Aarau aus gedacht.