Gastkommentar

Aus Liebe zu Aarau Demokratie abschaffen?

Muss die Stadt Aarau grösser werden, um sie zu lieben? Ein See, der nie realisiert wurde. Warum lesen Sie?

Von Stephan Müller

«Die Geschichte soll auf dem Papier geschehen» hiess die Kolumne, in welcher Peter Bichsel 1968 am Schluss die entscheidenden Fragen aufwarf: «Was macht Geschriebenes lesenswert? Warum lesen Sie?». Nicht auf Papier, aber digital möchte ich hier am Schluss die selben Fragen stellen.

Liebe ich Aarau? Ich nenne es lieber Hassliebe. Seit der Kantonsschulzeit habe ich Bekanntschaft mit der Stadt geschlossen. Und später mich auch politisch betätigt. Und einiges konnte so erreicht werden: Dass der Stadtbach durch die Altstadtgassen (wieder) fliesst und diese nicht asphaltiert wurden; dass es ein Zentrum für Demokratie in der Stadt gibt; dass eine Aarebadi zu planen ist; dass der 12. April jedes Jahr gefeiert werden soll: Der Geburtstag der Helvetischen Republik von 1798, als das revolutionäre Aarau die Hauptstadt der revolutionären Republik wurde. Einiges entwickelte sich auch nicht so, wie ich es mir wünschte: Das neue Fussballstadion steht voraussichtlich nicht an jenem Ort und wird nicht in jenen Bedingungen gebaut, wie ich es gewollt hätte. Und der Stadtbach wird in der Vorderen Vorstadt nicht geöffnet, stattdessen wird diese Altstadtgasse asphaltiert. Und dann gab es in der Geschichte Projekte, bei denen ich heute noch bedauere, dass sie nicht realisiert wurden: Die Schiffahrtmachung der Aare, wo ein Hafen in Aarau vorgesehen war. Oder der vor hundert Jahren geplante 3 km² grosse Aaresee, der Aarau zu einer Stadt am See gemacht hätte (siehe auch «Zeitreise» von Hermann Rauber dazu). Wäre der Geist der Stadt heute anders, wenn wie geplant die Schiffe von Rotterdam bis hierher fahren würden?

Muss die Stadt Aarau grösser und mit diversen Nachbargemeinden vereint werden, damit man sie noch mehr lieben kann? Das ist sehr gut zu überlegen. Ein Verlust, der stark zu spüren wäre, ist der vorgesehene radikale Abbau der direkten Demokratie in der fusionierten Stadt. Nicht nur die Gemeindeversammlungen in sämtlichen Fusionsgemeinden würden im neuen Aarau abgeschafft, sondern – darüber diskutiert niemand – sämtliche Referendumsmöglichkeiten de facto auch.

Heute braucht es 1500 Unterschriften innert einem Monat, damit in Aarau ein Referendum eingereicht werden kann. Diese Zahl ist schon heute fast nicht erreichbar. Im fusionierten Aarau müssten dann rund 3000 innert einem Monat unterschreiben, damit eine Volksabstimmung angesetzt werden muss. Wer schon einmal Unterschriften gesammelt hat, weiss: Damit wird im fusionierten Aarau nach menschlichem Ermessen kein Referendum mehr je zustandekommen können. In der grossen Stadt Zürich braucht es für ein Referendum 2000 Unterschriften in zwei Monaten. Also nur 2/3 der Unterschriften wie im fusionierten Aarau bei 10 mal grösserer Einwohnerzahl, und man hat dafür doppelt soviel Zeit, nämlich zwei Monate. Die Hürde und die Schwierigkeit für ein Referendum wird in Neu-Aarau damit 30 mal so hoch wie in Zürich.

Eigentlich müsste die faktische Abschaffung der Referendumsmöglichkeit das Hauptthema in allen Debatten in Suhr, Entfelden, Densbüren und Aarau sein. Bevor der Kanton Aargau nicht die im Gesetz vorgeschriebene Referendumshürde für eine Gemeinde wie Neu-Aarau massiv senkt, und zwar definitiv und rechtsgültig, sollte über eine Fusion ernsthaft gar nicht diskutiert, und die Abstimmungen darüber verschoben werden. Ausser man will die direkte Demokratie auf Gemeindeebene abschaffen. Oder will die Katze im Sack kaufen, in der Hoffnung, die überhöhte Hürde würde vielleicht und später und eventuell durch den Grossrat oder die Aargauer Stimmbürgerschaft einmal gesenkt.

Zum Schluss also wie angekündigt zurück zu den poetischen Fragen vom Anfang: «Was macht Geschriebenes lesenswert? Warum lesen Sie?» Sie haben diese Kolumne jetzt online gelesen. Beantworten Sie die Fragen selbst.