Zeitreise

Die Aarauer Hilfsgesellschaft

Vor über fünfzig Jahren wurde die Aarauer Hilfsgesellschaft aufgelöst. Eine ihrer wichtigsten Tätigkeiten wirkt bis heute nach.

Von Raoul Richner

 

 

Entstanden ist die Aarauer Hilfsgesellschaft im Herbst 1811 auf Initiative von – wie könnte es anders sein? – Heinrich Zschokke. Der Vorstand setzte sich aus etablierten, gut vernetzten Herren zusammen, die Namen wie Frey, Hürner, Herosé oder Rothpletz trugen. Die Zusammensetzung des Vorstandes, der sich selbst ergänzte, wandelte sich 1908. Fortan sollte immer ein Vertreter der Lehrerschaft und des städtischen Handwerks Einsitz nehmen. 1918 wurden erstmals zwei Frauen gewählt. Im Vorstand sassen meist beide reformierten Stadtpfarrer gemeinsam mit ihren römisch-katholischen bzw. christkatholischen Kollegen. Man kann also von einem ökumenischen Miteinander auf lokaler Ebene sprechen, lange bevor dies von offizieller Seite gefördert worden ist. Auf diese Weise wurde die konfessionelle Neutralität der Gesellschaft garantiert.

Die Hülfsgesellschaft – bis 1958 schrieb sie sich mit einem archaischen ü – schrieb sich die materielle Hilfe für Aaraus Einwohner auf die Fahne. Dabei sollte die Herkunft und die Konfession der Bedürftigen keine Rolle spielen. Es musste sich jedoch um «würdige» Arme handeln, das heisst um Leute, die nicht aufgrund eines eigenen Fehlverhaltens in Armut geraten waren. Die einzige Bedingung, die objektiv erfüllt sein musste, war eine Mindestaufenthaltsdauer in Aarau von fünf Jahren. Man fürchtete, dass ohne eine solche Einschränkung mittellose Landbewohner in die Stadt kämen, um von der Hilfe zu profitieren. Aus der Erfahrung in der Praxis wurde die Mindestaufenthaltsdauer für Gesuchsteller auf drei (1871) und schliesslich auf ein Jahr hinuntergeschraubt (1892).

Die Statuten sahen Hilfeleistungen für Arme und Kranke, Wöchnerinnen sowie durch Unfälle arbeitsunfähig gewordenen Personen vor. Explizit erwähnt wurden arme Kinder. Abgegeben wurde Brennmaterial (Reiswellen) und Nahrungsmittel (v.a. Kartoffeln). Kinder erhielten zudem Schuhwerk und Kleidungsstücke. Um Missbrauch vorzubeugen, wurde auf Auszahlungen von Bargeld verzichtet.

Die Gesellschaft finanzierte sich durch Spenden und die Jahresbeiträge der Mitglieder. Die Mitgliederzahl schwankte stark und erreichte bis zu 400 Leute, die sich allerdings in aller Regel äusserst passiv verhielten und sich nur ganz vereinzelt an Generalversammlungen blicken liessen.

Im Winter 1879/80 liess man erstmals in einem Waschhaus in der Halde Suppe für die Armen kochen. Ab 1895 konnte die Hilfsgesellschaft unter dem Schlagwort «Kasernenspeisung» aus der Soldatenküche überschüssige Nahrungsmittel beziehen und direkt an Bedürftige abgeben – eine frühe Form der Verhinderung von Food Waste! Beides, die Suppenabgabe und die Kasernenspeisung wurde in den 1950er bzw. 1960er Jahren mangels Nachfrage eingestellt.

Ein innovatives Projekt nahm die Hülfsgesellschaft 1879 in Angriff. Auf Initiative von Pfarrer Zschokke kopierten die Aarauer eine Idee aus Zürich, Kinder aus benachteiligten Familien für drei Wochen in gesunde Ferien zu schicken. Es ging um «bessere Luft, bessere Nahrung, geordnetere Zustände». Ausgewählt wurden die Kinder durch den Schularzt und die Lehrer. Die erste so genannte Ferienkolonie fand auf dem Bözberg statt, im Folgejahr im Baselbieter Jura. Die Suche nach geeigneten Lagerorten erwies sich als aufwändiges und schwieriges Unterfangen. Durchgeführt wurden bis zu drei solcher dreiwöchigen Kolonien in den Sommermonaten. Da sie regelmässig ausserhalb der Ferienzeit stattfanden, gewährte die Schulpflege jeweils den teilnehmenden Schülerinnen und Schüler entsprechend Urlaub. Die Kolonien setzten sich aus rund 60 Kindern zusammen, je etwa zur Hälfte aus Mädchen und Knaben. Sie unterschieden sich durch das Alter der Kinder: einige waren für Zweit- und Drittklässler offen, andere für Viert- und Fünftklässlerinnen. Kindergärtner und Erstklässler waren ausgeschlossen.



Zu Beginn und am Ende wurden die Kinder gewogen. Mit Stolz hielten die Kolonie-Berichte jeweils fest, um wie viel die Schutzbefohlenen in den drei Wochen durchschnittlich an Körpergewicht zugelegt hatten… Die Kolonien sollten von den Kindern als Erholung wahrgenommen werden. Daher wurde Spiel und Spass viel Platz eingeräumt. Wanderungen, Theaterspiel, Singen, Tanzen standen auf dem Programm.
Einen Meilenstein stellte die Erstellung eines eigenen Ferienheims dar. Durch die Schenkung und weiteren Zukäufen von Grundstücken auf der Kühweid oberhalb Obererlinsbach kam die Hilfsgesellschaft in den Besitz eines günstigen Grundstückes für den Bau eines Heims. Die Inbetriebnahme des fortan Beguttenalp genannten Heimes erfolgte im Sommer 1901. In den 1920er und 1960er Jahren erfolgten Um- und Erweiterungsbauten wie beispielsweise eine Brunnenleitung oder der Einbau von In-Haus-Toiletten.

Über den Ablauf der Ferienkolonien auf der Beguttenalp sind für die Jahre 1901 bis 1942 besonders gut informiert, da die Tagebücher der Leiterinnen erhalten sind. Die zum Teil mit Fotos und Zeichnungen versehenen Texte schildern den Tagesablauf, der stark vom Wetter abhing. Bei anhaltendem Regen war die Lagerleitung darum bemüht, die Kinder mit Spielen in den Innenräumen bei Laune zu halten. Die Berichte sind nicht schöngefärbt, sondern sprechen auch Probleme an: herzzerreissendes Heimweh und Unfälle der Kinder sowie einzelne Disziplinarfälle.


Organisatorische Fallstricke wurden in den Tätigkeitsberichten der Hilfsgesellschaften benannt. Es gestaltete sich oft schwierig, geeignete Kolonieleiterinnen und Leiter zu finden. Ab und an konnte erst in letzter Minute eine Lehrkraft überzeugt werden, auch einen Teil der Ferien mit den Schulkindern zu verbringen.

Die Hilfsgesellschaft stellte in der Nachkriegszeit nach und nach ihre Tätigkeit ein. Als Folge der Hochkonjunktur waren ihre Angebote nicht mehr gefragt oder wurden vom ausgebauten städtischen Fürsorgeamt übernommen. Die Gesellschaft erklärte sich für überflüssig. An einer ausserordentlichen Generalversammlung im September 1967 im Café Bank wurde die Auflösung beschlossen. Von den 273 eingeladenen Mitgliedern waren gerade einmal deren vier erschienen…

Da in den Statuten keine Regelung für die Vereinsauflösung vorgesehen war, fiel das Vermögen der Gesellschaft an das Gemeinwesen, das heisst an die Einwohnergemeinde Aarau. Auf diese Weise fiel das Ferienheim Beguttenalp an die Stadt, in deren Besitz es noch heute ist. Als letzten Wunsch drückte die Hilfsgesellschaft ihre Hoffnung aus, dass fortan die Schulpflege die schwierige Organisation der Ferienkolonien übernehmen sollte.