Zeitreise

Die «entführte» Pfarrerstochter

In einer kühlen Novembernacht 1713 verschwand eine junge Aarauerin aus ihrem Elternhaus. «Entführung!», rief ihr Vater aus… Tatsächlich? Diese Story, die damals in der Stadt gewiss in aller Munde war, soll nun aufgerollt werden.

Von Raoul Richner

 

 

Pfarrer Jakob Schmuziger war aufgebracht. Zu seinem grossen Verdruss war in der Nacht vom Sonntag, den 19. auf Montag, den 20. November 1713 seine älteste Tochter «hinderrucks» aus seinem Haus in der Vorstadt entführt worden. Er versuchte wohl zunächst, die Sache in eigener Regie zu klären, da er den Entführer benennen konnte. Eine gute Woche später wandte er sich an das städtische Chorgericht, das als Sittenbehörde für derlei Fälle zuständig war. Er verlangte, dass die Affäre amtlich aufgeklärt werde.

Jakob Schmuziger (1659-1723) entstammte einer Familie, die im frühen 16. Jahrhundert aus Säckingen nach Aarau gezogen war. Dass er eine Pfarrerslaufbahn eingeschlagen hat, liegt vermutlich an elterlichem Druck und weniger an seinem fachlichen Interesse. Er trat 1689 in Rued seine erste Pfarrstelle an, wechselte aber noch im gleichen Jahr in die Nachbargemeinde Kirchleerau, wo er bis 1710 amtete. Sein Abgang dort war nicht freiwillig: Nachdem seine Amtsführung schon länger zu Klagen Anlass gegeben hatte, zog die Obrigkeit die Reissleine und setzte ihn ab. Es wird berichtet, dass Schmuziger sich lieber weltlichen Geschäften widmete als seinem Dienst: Er wirtete und reiste auswärtigen Geschäften nach, so dass das Pfarrhaus oft verwaist war. Nach dem Verlust der Leerauer Pfründe kehrte Schmuziger mit Frau und seinen vier Töchtern in seine Vaterstadt zurück. Offenbar betätigte er sich hier als Kaufmann; angesprochen wurde er aber weiterhin als «Herr Prädikant». Auch in Aarau sass er mal auf der Anklagebank, nachdem er verbotenerweise Getreide ins Solothurnerbiet verkauft hatte.

Schmuziger wusste, wen er für Tat verantwortlich machen musste: einen gewissen Johann Philipp Hofstetter (*1690), einen St. Galler Handelsmann. Dieser hatte im November durch einen Mittelsmann um die Hand seiner ältesten, gerade 19 Jahre alt gewordenen Tochter Anna Magdalena (*1694) angehalten. Pfarrer Schmuziger verweigerte seine Zustimmung. Hofstetter, der im Gasthaus zum Löwen, unweit der Schmuzigers, logierte, akzeptierte die Rückweisung nicht und entführte – Schmuzigers Wortwahl zufolge – die junge Frau bei Nacht und Nebel. Da das Ganze einvernehmlich ablief, würde man heute eher von einem romantischen «Durchbrennen» sprechen.

Leider wissen wir nicht, unter welchen Umständen das Liebespaar Bekanntschaft gemacht hat. Vielleicht lernte Hofstetter Jungfer Schmuziger auf der Durchreise kennen? Er dürfte die Schweiz nämlich öfter durchquert haben, zumal seine Verwandtschaft väterlicherseits aus St. Gallen und mütterlicherseits aus Lausanne stammte. Seine Eltern hatten sich am Genfersee niedergelassen, so dass der zweisprachige junge Mann meist als Lausanner bezeichnet wird.

Nun, das Chorgericht leitete eine Untersuchung ein. Man suchte und fand Zeugen. Postillon Sebastian Lienhard sagte aus, dass er an besagtem Sonntagabend bereits im Bett gewesen sei, als Hofstetter bei ihm auftauchte. Er beauftragte ihn, um Mitternacht drei Pferde durch den Schachen zum Nussbaum am Rain zu führen. Für Lienhard war dies offenbar kein aussergewöhnlicher Auftrag. Lienhard seinerseits ging zu Samuel Brunner, um ein Pferd zu holen. Beide gaben an, dass sie nicht gewusst hätten, was Hofstetter im Schilde führte und dass sie somit keine Mitwisser seien. Dass Hofstetter explizit auch einen Damensattel bestellt hatte, weckte bei ihnen keinen Verdacht.

Als Mitwisserin wurde dafür Jungfer Schmid entlarvt. Sie war eine Freundin von Anna Magdalena Schmuziger und übermittelte den Ausreisser-Plan von Hofstetter an diese, wobei sie auf ihrem Botengang von einem Zeugen, Ratsherr Stephani, gesehen wurde. Allerdings habe auch sie erst in der Nacht selbst von diesem Vorhaben erfahren. Hofstetter habe sie gebeten, quasi als Anstandsdame ebenfalls mitzureiten, was sie aber abgelehnt habe.

Misslich wurde die Situation für Maria Rychner. Sie wohnte am Rain neben dem Schlagbaum, der nachts geschlossen wurde, damit Reiter und Fuhrwerke nicht ungehindert in die Stadt eindringen konnten. Ihr Vater war für das Öffnen und Schliessen dieser Barriere verantwortlich. In dessen Abwesenheit hat die Tochter in der «Tatnacht» auf Ansuchen eines Unbekannten um 22 Uhr den Schlagbaum geöffnet und erst um 1 Uhr morgens wieder geschlossen. – Der Schlagbaumbeschliesser Rychner wurde in der Folge übrigens abgesetzt…

Die Turteltauben hatten sich zusammen mit einem Bekannten Hofstetters, einem gewissen Herrn Deleserts, Richtung Olten auf den Weg gemacht, um sich ins Waadtland zu begeben.

Der beleidigte Pfarrer Schmuziger grollte. Er wollte dem potentiellen Schwiegersohn das unerhörte Vorgehen nicht durchgehen lassen. Er bestand darauf, dass der Urheber und alle Mitwisser:nnen des «Enlevement» zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die übergeordnete Instanz, das Ober-Chorgericht in Bern, sollte darüber befinden. Noch fast ein halbes Jahr später, im März 1714 wurde deswegen zwischen Bern und Aarau korrespondiert.

Immerhin liessen sich die Wogen glätten. Als Schmuziger einen versöhnlichen Brief aus Lausanne erhielt, in welchem Hofstetters Vater um Nachsicht für seinen übermütigen Junior bat, antwortete er, dass er seine Zustimmung zu einer Hochzeit nur unter der Bedingung gäbe, dass das Paar seinen Fehler eingestehe und Abbitte leiste. Bald reiste die Gruppe aus Lausanne an und die Ehe konnte geschlossen werden. Das junge Paar liess sich in der Folge sogar in Aarau, im Haus des Schwiegervaters, nieder. Sie hatten zwei Töchter, Susanna Kleophea (*1715) und Judith Ursula (*1717).

Die Geschichte scheint also ein Happy End zu haben. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage? Ja, vielleicht. Jedoch kam das Ende ihrer Tage leider früh: Hofstetter segnete das Zeitliche bereits mit 33 Jahren im Frühling 1723, seine Gattin war ihm wahrscheinlich bereits im Tod vorausgegangen. Pfarrer Schmuziger überlebte sie um einige Monate und starb im Sommer 1723.

Der Vollständigkeit sei noch angefügt, dass Hofstetters 1718 von Aarau nach Rohr umzogen, wo Johann Philippdas einzige steinerne Gebäude gekauft hatte, das nach später als Griederhaus bezeichnet wurde. Nach seinem Todnahm Aarau mit der Stadt St. Gallen Kontakt auf, um die Versorgung der beiden Waisenkinder, die ja ein St. Galler Bürgerrecht hatten, sicherzustellen. Die beiden wurden mitsamt ihrem Erbgut in die Ostschweiz geschickt, wo gegebenenfalls noch heute Nachkommen von Susanna Kleophea leben.