Zeitreise

Die Herosé-Fabrik im Hammer

Eine der ältesten und markantesten Industriebauten Aaraus kann dieses Jahr einen runden Geburtstag feiern: Der repräsentative Bau an der Mühlemattstrasse 40 wurde 1823/24 durch die Firma Herosé errichtet.

Von Raoul Richner

 

 

Bevor vor wir uns dem Gebäude an sich widmen, wollen wir zunächst einen Blick auf die Familie Herosé werfen. Der Stammvater, Johannes Herosé (1736-1807) kam aus Speyer nach Basel, wo er bei einem Kaufmann in die Lehre ging. Anschliessend fand er Anstellungen bei Aarauer Handelsmännern, zuerst bei Martin Nüsperli und dann bei Abraham Ernst. 1763 heiratete er Salome Ernst – die Tochter des Chefs – und wurde hier Bürger. Johannes und Salome hatten acht Kinder, allesamt Knaben, von denen sieben das Erwachsenenalter erreichten. Johannes Herosé arbeitete als Teilhaber in der schwiegerväterlichen Baumwollhandlung weiter, gründete dann 1777 mit zwei Kompagnons eine Indiennefabrik im Weyergut.

Diese «indischen Tuchwaren», meist mit Blumen-Mustern bunt bedruckte Stoffe, wurden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dank effizienterer Herstellungsverfahren für breitere Bevölkerungsteile erschwinglich. Die drei Aarauer Unternehmer erkannten das Potential dieses rasch wachsenden Absatzmarktes und wollten sich einen Anteil daran sichern. Die Aarauer Indiennefabrik gehört zu den ältesten im ganzen deutschsprachigen Raum!

Die Konkurrenz liess allerdings nicht lange auf sich warten. Um 1785 gab es allein in Aarau bereits sieben Stoff-Druckereien. Die Unternehmung von Johannes Herosé aber (er hatte sich von seinen zwei Kompagnons getrennt) erwies sich als die erfolgreichste und langlebigste. Als der Gründer 1807 starb, übernahm zuerst seine Witwe die Geschäftsführung, dann seine Söhne, die ab 1811 als «Gebrüder Herosé» firmierten.

Der Sitz der Firma befand sich zuerst im heutigen Gebäude Hammer 15/19. Unweit davon erwarb einer der Söhne 1808 das Schlössli, das in die Fabrik eingegliedert wurde. 1823 kauften die Herosé eine durch den Stadtbach betriebene Gipsmühle am Ostende des Schlösslirains. Dieses Gebäude wurde abgebrochen und bis 1824 durch den heutigen, grossen Fabrikbau ersetzt (heute: Mühlemattsstrasse 40).



Die drei älteren Söhne, Jakob, Johannes und Karl Herosé, prägten das Aarau Geschäft. Die beiden jüngsten Söhne, Gabriel und Ludwig, zog es nach Konstanz an den Bodensee, wo sie 1812 eine Textilfirma übernahmen.

In Aarau wurde industrielle Pionierarbeit geleistet: In der Heroséschen Fabrik mit einem doppelten Wasserwerk wurde die erste Walzendruckerei der Schweiz eingerichtet. 1818 waren bereits 80 verschiedene Walzen im Einsatz; aber auch nach herkömmlicher Methode mittels Drucktisch konnten 70 verschiedene Sujets gedruckt werden.
Bild: Druckwalze Indienne-Stoff

Der deutsche Chemiker Heinrich von Kurrer beschreibt in seiner Geschichte der Zeugdruckerei auch die Situation in Aarau. Die Firma der Gebrüder Herosé erwähnt er an erster Stelle und gerät geradezu ins Schwärmen ob der hervorragenden Qualität der Produkte und der modernen Fabrikausstattung.

Wie von Kurrer vermerkt, wurden im Druckprozess wurden Kinder eingesetzt, die die Farbe ausstreichen mussten – man nannte sie die «Streichkinder». In den 1810er Jahren arbeiteten 53 Minderjährige beider Geschlechter in der Heroséschen Fabrik. Von Kurrer beschreibt ausführlich und lobend, dass diese Kinder in Frei- und Abendstunden eine im Gebäude selbst untergebrachte Fabrikschule besuchen konnten. Von einem «instruktiven braven Lehrer» werden die Mädchen (bis ins 15. Lebensjahr) und die Knaben (bis ins 16.) in Religionskunde, im Lesen, Rechnen, Schreiben und in Geschichte unterrichtet. Karl Herosé, der die Schule beaufsichtigt, sorgte dafür, dass genug Lehrbücher und Schreibmaterial vorhanden ist. Er «besitzt die ungetheilte Liebe seiner Arbeiter und Fabrikzöglinge, die ihn wie ihren Vater verehren».

Trotz dieses Engagements entschied sich Karl Herosé 1834, aus dem Geschäft auszusteigen. Er betrat nochmals neue Pfade, indem er jenseits der Aare eine Fabrik für sogenannten «Wasserzement» erbauen liess. Auch das eine Pioniertat in der Schweiz!

Mit der Aarauer Herosé-Textilunternehmung ging es jedoch bergab. Nach Karls Ausscheiden und dem Tod seiner Brüder 1837 bzw. 1838 wurde die Produktion in den 1840er Jahren eingestellt, was auch der sich generell verschlechternden Wirtschaftslage geschuldet war. Die Gebäude gingen 1849 in die Hand des Seidenbandfabrikanten und nachmaligen Stadtammanns Friedrich Feer über. Der neue Besitzer liess das Fabrikgebäude in den 1850er Jahren stadtbachabwärts spiegeln, so dass das bis heute erhaltene, symmetrische Ensemble entstand. Bis auf einige Details gleichen sich die beiden wie Zwillinge – obwohl ihre Bauzeiten dreissig Jahre auseinanderliegen.

In Aarau selbst heisst heute niemand mehr Herosé, doch der Name ist nichtsdestotrotz immer präsent. Der kinderlose Nationalrat Ludwig Emanuel Herosé stiftete 1899 Geld mit dem Ziel, damit ein Altersheim zu gründen. Die Stadt Aarau investierte dieses Kapital in den Kauf des Herzogguts und richtete das bis heute bestehende Herosé-Stift dort ein. Während in Aarau die Herosésche Textilfabrik also bereits in den 1840er Jahren einging, blieb der von den jüngeren Brüdern in Konstanz geführte Betrieb bis 1997 (!) bestehen.



An der Mühlemattstrasse 40 wird schon länger nichts mehr produziert; im 20. Jahrhundert ging das Gebäude in den Besitz der Schuhherstellers Fretz & Co. über, die die Liegenschaft in den 1980er Jahren etappenweise sanieren liess und für eine gemischte Nutzung öffnete. Inzwischen beherbergt es Wohnungen, Dienstleister und Bildungsinstitutionen – namentlich seit 1984 die Kaderschule des Schweizerischen Roten Kreuzes, heute «Careum».