Zeitreise

Hans Dürr – ein auffälliger Aarauer aus dem 16. Jahrhundert

Über die allermeisten Menschen, die vor 400 Jahren lebten, lässt sich keine Biographie schreiben, weil die Quellenlage zu schlecht ist. Ein Gegenbeispiel ist Hans Dürr, dessen Leben sich nachzeichnen lässt und von dem sogar handschriftliche Texte erhalten sind.

Von Raoul Richner

 

 

Hans Dürr wurde um die Mitte der 1520er Jahre mutmasslich in Solothurn geboren. Er kam 1533/34 als Kind mit seinen Eltern nach Aarau. Sein Vater Urs hatte sich aus konfessionellen Gründen entschieden, die katholische Heimatstadt zu verlassen und ins reformierte Aarau überzusiedeln. Die Dürrs gehörten der Solothurner Oberschicht an, hatten hohe Ämter inne. Urs amtete als Landvogt von Gösgen. Mit dem Umzug verloren sie ihr Solothurner Bürgerrecht und die damit verbundenen Privilegien. In Aarau mussten sie neu anfangen, konnten aber ihren hohen Sozialstatus wahren.

So heiratete Hans 1549 Anna Meyer und damit in eine Ratsherrenfamilie ein. Sie war die Tochter von einem der berüchtigtsten Täuferlehrer des Unteraargaus, Hans Meyer, der als «Pfistermeyer» in die Geschichte eingegangen ist. Das Ehepaar Dürr-Meyer hatte mindestens sieben Kinder, wobei nur deren fünf das Erwachsenenalter erreichten: Andreas (*1550), Samuel (*1560), Elisabeth (*1562), Hans (*1564) und Sara (*1566). Die Familie wohnte in der Vorstadt, wo Dürr eine Liegenschaft erworben und um- und ausgebaut hatte. Um welches Haus es sich handelte, kann derzeit mangels historischem Grundbund nicht gesagt werden.

Hans Dürr betätigte sich als Tuchhändler – und dies offenbar mit einigem Erfolg. In den städtischen Steuerlisten erscheint er zusammen mit seinem Bruder Mathis unter den Top-15 der rund 350 Steuerzahlern. Im Gegensatz zu seinem Bruder bekleidete Hans jedoch nie ein politisches Amt. Ein interessierte Zeitgenosse war er aber zweifellos. Von seiner Hand – er hatte eine aussergewöhnlich kleine, präzise Handschrift – stammen zwei für die Stadtgeschichte bedeutende Augenzeugenberichte. Einerseits dokumentierte er die etwa hundert englischen Flüchtlinge, die sich zwischen 1557 und 1559 in Aarau aufhielten. Dürr notierte deren Namen, Herkunft, Berufe und bei wem sie unterkamen. Anderseits kommentierte er die Pestwelle von 1564/1565 und stellte wochengenaue Statistiken zusammen.

Ab den 1570er Jahren ändert sich das Bild, das sich über Hans Dürr aus den Quellen gewinnen lässt. Fortan erscheint er vor allem im Zusammenhang mit Streitfällen, wobei er meist auf der Anklagebank sitzt. Vorgeworfen wurden ihm etwa Wucher, eine schlechte Zahlungsmoral oder Ungehorsam gegenüber den städtischen Behörden.

Er missachtete Aufgebote vor den Rat, kümmerte sich nicht um Anweisungen oder schwänzte seinen Wachtdienst. Mehrfach mussten die beiden Stadtweibel ihn zu Hause abholen, um sicherzustellen, dass er tatsächlich Vorladungen folgeleistete. Einmal kam es zu einem Handgemenge mit Dürrs Unterstützern, als die Weibel ihn abführen wollten. Einmal schaffte es Dürr, sich der Verhaftung zu entziehen, indem er sich durch eine versteckte Türe im einem Nebenstübchen aus dem Staub machte.

Dürr stiess auch allerhand Scheltworte aus und beleidigte Amtsträger. Sowohl den Stadtschreiber, als auch das Stadtoberhaupt, Schultheiss von Luternau, brachte er gegen sich auf. Beat von Luternau (1587) war der letzte Aarauer Schultheiss adeliger Abstammung und legte viel Wert darauf, dass ihm der nötige Respekt gezollt wurde. Dürr hatte sich erfrecht, ihn zu duzen …

Der Haussegen hing ebenfalls schief. Anna klagte ihren Gatten wegen häuslicher Gewalt an. Dürr musste sich vor dem Sittengericht verantworten, gelobte Besserung, wurde aber immer wieder rückfällig. Die Scheidung, die seine Frau verlangte, kam schliesslich nicht zustande; offenbar versöhnten sich die beiden wieder. Sie scheinen bis an ihr Lebensende zusammen geblieben zu sein.

Dem Aarauer Rat wurde das Verhalten Dürrs 1583 zu bunt. In einem wohl einmaligen Vorgang wurde ihm das Bürgerrecht und zugleich die Niederlassungsbewilligung entzogen. Hans Dürr und seine Frau mussten Aarau verlassen und sich eine neue Bleibe suchen. Nach einigem Herumirren kamen sie 1585 beim Pfarrer Samuel Gruner in Seengen unter. Gruner und Dürr, die etwa gleichaltrig waren, kannten sich seit den 1550er Jahren, als ersterer in Aarau seine erste Stelle als Pfarrhelfer innehatte. Aus seinem Exil am Hallwilersee prozessierte Dürr weiter. Er wandte sich schriftlich an den Landesherrn. Ein von Seengen aus nach Bern verschicktes Schreiben vom Februar 1588 ist erhalten.

Darin erklärt Dürr weitschweifig, dass seine Verbannung ein Justizirrtum sei. Er beschwerte sich bei den Gnädigen Herrn bitterlich über das Verhalten der Aarauer Behörden. Nicht einmal ausnahmsweise sei ihm erlaubt worden, in seine Heimatstadt zurückzukehren.

Selbst als seine Frau, die in Aarau zu Besuch weilte, einen Schlaganfall erlitt, durfte er nicht zu ihr. Zwei seiner Söhne, Samuel und Hans, waren 1587 als Söldner nach Frankreich in den Hugenottenkrieg gezogen. Während Hans dort umkam, kehrte Samuel verletzt nach Aarau zurück. Da er sich in Lebensgefahr befand, weil ihm die Amputation eines Beines drohte, wollte sein alter Vater ihn besuchen. Doch auch dies wurde ihm verwehrt. Nach dem baldigen Tod des Sohn durfte er weder an der Beerdigung teilnehmen, noch seinen Enkeln Trost spenden.

In Bern brachte man Dürr offenbar Verständnis für seinen Groll entgegen; ob der Berner Rat aber auch die Aarauer übersteuerte und Hans eine Rückkehr gestattete, muss noch offen bleiben.

Hass Dürr starb wohl 1598 oder 1599. Sein Testament, das seine Tochter 1600 einsehen wollte, lag damals in den Händen der Stadt. Die Erbmasse dürfte verhältnismässig gross gewesen sein; seine Tochter Sara gibt später an, dass ihr vom Vater ein «hüpsch Gut» zugefallen sei.

Der älteste Sohn, Andreas, scheint einen Funken der väterlichen Rabaukenhaftigkeit geerbt zu haben, in den 1590er Jahren wurde er als unbelehrbarer Prasser verurteilt. In den nächsten Generationen betätigten sich die Dürrs als brave Handwerker oder sogar als Lehrer und Pfarrer. Von der Politik hielten sich aber auffälligerweise fast alle fern.