Zeitreise

Aus aktuellem Anlass: Der Maienzug

Die vielen Elemente, aus denen sich das schöne Fest zusammensetzt, sind nicht in Stein gemeisselt. Auf allen Ebenen hat sich das Fest über die Jahrhunderte entwickelt. Aus den letzten zweihundert Jahren liegt genug Quellenmaterial vor, um einige gewichtige Veränderungen nachzuzeichnen.

Von Raoul Richner

 

 

Rund um die Geschichte des wichtigsten Aarauer Festes ist schon viel Tinte geflossen. Es wurde versucht, dem Ursprung des Festes nachzuspüren und dessen Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert nachzuskizzieren. Die Quellenlage dazu ist für die ersten Jahrhunderte mager. Einzelnotizen in den Stadtratsprotokollen oder Rechnungsbüchern lassen Schlaglichter zu. Ab dem 19. Jahrhundert verdichten sich die Nachrichten. Einerseits finden sich mehr Informationen von städtischer Seite:  Anpassungen, die dem Zeitgeist geschuldet waren oder organisatorische Verbesserungen mit sich brachten, lassen sich anhand der Stadtratsprotokolle nachvollziehen. Beispielsweise wurde die Verpflegung der Schuljugend stets optimiert – zulasten der Stadtkasse: Die Kinder waren im Ancien Régime im Rathaus selbst verköstigt worden, ab etwa 1800 im Schachen und ab 1850 auf dem Schanzmätteli. Bis in die 1890er Jahre hatte jedes Kind nicht nur sein Gedeck selbst mitzubringen, sondern auch die Speisen für das Büffet. Die Lehrer mussten vorgängig koordinieren, wer welche Art von Kuchen oder Aufschnitt auftischte. Die Stadt beschaffte 1899 eigenes, wiederverwendbares Besteck und übernahm schliesslich die Organisation und die Kosten für das auf ein «Zobig» zusammengeschrumpfe Mittagessen.
Leider sind die Protokolle der seit mindestens 1810 existierenden Kommission noch ganz lückenhaft überliefert, so dass sich Überlegungen und Argumentationslinien für Innovationen nicht vollständig nachvollziehen lassen. Ab den 1850er Jahren existieren gedruckte Programme, anhand deren sich der grobe Ablauf des Anlasses nachvollziehen lässt. Viel mehr «Fleisch am Knochen» liefern die meist relativ umfangreiche Berichterstattung in der Tagespresse. Hier erhält man oft einen in blumige Worte gefassten Stimmungsbericht und bisweilen kritische Kommentare. Das «Hungerbankett» füllte 2008 die Leserbriefspalten. Auch von Schriftstellern wurde der Maienzug schon beschrieben, etwa von Hermann Burger, der eine besondere Beziehung zu diesem Fest hatte, zumal er am Maienzug 1942 im Kantonsspital das Licht der Welt erblickt hatte …

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert kommen Bildquellen dazu: Der Maienzug war selbstverständlich ein erstklassiges Fotosujet. Überraschenderweise wurde auch schon früh gefilmt: die ältesten überlieferten, wackeligen Filmaufnahmen stammen vom Umzug 1897. Für das 20. und 21. Jahrhundert liegt Bildmaterial à gogo vor – hundertfach in der Sammlung des Stadtmuseums und ein Vielfaches davon in privaten Alben.

Der Maienzug ist etwas Einzigartiges – oder doch nicht ganz? Die früheren und gegenwärtigen Parallelen zum Rutenzug in Brugg, zum Jugendfest in Lenzburg und zum Kinderfest in Zofingen sind nicht zu übersehen. Vielleicht wagt sich einmal jemand an eine die Jahrhunderte übergreifende Analyse der Feste in den Berneraargauer Städte …

Das Aarauer Fest hat sich stets gewandelt. Auch in ganz entscheidenden Dingen, nämlich bei der Benennung des Anlasses selbst! Im 19. Jahrhundert und offiziell bis 1924 sprach man vom Aarauer Jugendfest. Entsprechend hiess die zuständige Kommission «Jugendfestkommission», das Programm «Jugendfestprogramm» und das Bankett «Jugendfest-Essen». Der Begriff «Maienzug» begann sich ab den 1920er Jahren durchzusetzen: Das Phänomen, dass ein Teil einer Sache stellvertretend für das Ganze stehen kann, wird in der Sprachwissenschaft als Stilfigur «pars pro toto» bezeichnet. Beispielsweise sind im Satz «Es waren nur fünf Nasen anwesend», Personen auf das Riechorgan reduziert. In unserem Fall hat der Umzug dem ganzen Fest den Stempel aufgedrückt. Analoges ist in Brugg passiert, wo der «Rutenzug» den Begriff «Jugendfest» verdrängt hat. Am längsten überlebte in Aarau der Begriff Jugendfest im Zusammenhang mit dem Bankett: noch 1945 wurden die Gäste zum «Jugendfest-Essen» eingeladen (siehe Titelbild). 1930 wurde übrigens definiert, dass das Aarauer Fest mit «ai» und nicht mit «ei» geschrieben werden soll …



Ein bedeutungsschwerer Wandel betrifft auch das Inhaltliche. Im 19. Jahrhundert hatte das Jugendfest noch einen stark religiösen Touch. Die Morgenfeiern fanden bis 1889 in der Stadtkirche statt, wo sich die beiden Stadtpfarrer bis 1870 als Festredner abwechselten. Nachdem bereits 1844 der Stadtrat die Pfarrherren um an den festlichen Rahmen angepasste und vor allem kürzere Ansprachen bat, wurden ab 1871 auch weltliche Hauptredner eingeladen. Bis in die 1930er Jahren standen die Pfarrer weiterhin auch im Telliring oft am Rednerpult. Spätestens seit den 1850er Jahren war es üblich, dass zusätzlich zum Hauptredner ein Jugendlicher das Wort ergriff – ein Kantonsschüler oder ein Gewerbeschüler. Dieses Redner-Tandem lebte bis 1990 fort; ab da gab es nur noch eine Ansprache, die wechselweise von Vertretern der Kantonsschülerschaft und einem mehr oder weniger prominenten Gast gehalten wurde. Die ersten Rednerinnen bestiegen das Podest im Telliring 1962 (Kantischülerin) bzw. 1976 (Hauptrednerin). Geredet wurde früher aber generell mehr – vor allem am Bankett: 1911 wird in der Presse von einem ganzen «Reigen der Toaste» gesprochen.



Seit dem 19. Jahrhundert gehörte ein militärischer Einschlag zu den Jugendfesten der Berneraargauer Städte: die Manöver zwischen Kadetten und Freischaren. Während sich in Lenzburg und Zofingen diese Tradition bis heute vorsetzt, ist sie in Brugg und Aarau eingeschlafen. Das Show-Gefecht im Schachen, bei dem stets die edlen Kadetten als Sieger vom Feld gingen, dürfte spätestens 1833 eingeführt und anschliessend sporadisch durchgeführt wurden sein. Zuletzt fand dieses Landschaftstheater 1938 statt. Kriegsgerät wird seither bloss noch für die frühmorgendlichen Böllerschüsse ausgepackt.

Wie auch immer sich das Aarauer Jugendfest weiterentwickeln wird, zwei Dinge bleiben absolut unveränderlich: Die Festfreude und die Hoffnung auf schönes, trockenes Wetter!